Heuß, Alfred, Historiker, 1909–1995

Alfred Heuß, ger­boren am 27. Juni 1909 in Gautzsch (bei Leipzig), gehörte zu den bedeu­ten­den deutschen Gelehrten des 20. Jahrhun­derts. Sein Ruhm grün­dete zuerst in sein­er über­ra­gen­den Leis­tung als Alth­is­torik­er. Aber die Weite seines Hor­i­zonts zeich­nete sich früh ab, im Grunde schon, als er nach dem Studi­um der Klas­sis­chen Philolo­gie, Geschichte und Philoso­phie in Leipzig, Wien und Tübin­gen, das er mit der Pro­mo­tion zum Dr. phil. abschloß, auch noch einen juris­tis­chen Dok­tor­ti­tel erwarb. Obwohl Heuß Schüler von Hel­mut Berve war, der nach 1933 zu den reg­i­me­na­hen Vertretern der Alten Geschichte gehörte, hielt er selb­st Dis­tanz und paßte sich lediglich äußer­lich den Ver­hält­nis­sen an. Heuß erhielt bere­its 1941 eine Pro­fes­sur in Bres­lau, wech­selte bei Kriegsende nach Kiel, dann nach Köln, kehrte Ende der vierziger Jahre noch ein­mal nach Kiel zurück, um dann von 1954 bis zu sein­er Emer­i­tierung ein Ordi­nar­i­at an der Uni­ver­sität Göt­tin­gen innezuhaben.

Die wichtig­ste wis­senschaftliche Leis­tung von Heuß war ohne Zweifel die Abfas­sung sein­er Römis­chen Geschichte (zuerst 1960), die, immer wieder aufgelegt, zu den beein­druck­end­sten Leis­tun­gen der deutschen His­to­ri­ogra­phie im 20. Jahrhun­dert gehört. Daneben gab es zahlre­iche Spezialun­ter­suchun­gen zu ver­schiede­nen Aspek­ten der Antike aus sein­er Fed­er, ins­beson­dere die Zeit des Hel­lenis­mus und die römis­che Entwick­lung betr­e­f­fend. Allerd­ings wurde früh erkennbar, daß Heuß‘ Anspruch über die Deu­tung dieses doch ver­hält­nis­mäßig schmalen Auss­chnitts der Geschichte hin­aus­ging. Ein Tatbe­stand, der etwa an der Mither­aus­ge­ber­schaft der Propy­läen Welt­geschichte abzule­sen war und dann an mehreren großen Essays, mit denen er Ansätze für die Deu­tung der Uni­ver­sal­his­to­rie erar­beit­ete (Zur The­o­rie der Welt­geschichte, 1968).

Wer wollte, kon­nte schon an dieser Stelle eine kon­ser­v­a­tive Weltauf­fas­sung fest­stellen, die wed­er in Zivil­i­sa­tion­spes­simis­mus ver­sank, noch dem Fortschritts­gedanken huldigte, son­dern die Kul­turen als Aus­druck des men­schlichen Formwil­lens deutete, deren Exis­tenz nicht nur von den Indi­viduen abhängt, son­dern auch von Geset­zmäßigkeit­en, die ihr Entste­hen, ihre Durch­set­zung oder ihr Scheit­ern, ihre Trans­for­ma­tion oder ihr Ende mitbes­tim­men. Von ein­er poli­tis­chen Stel­lung­nahme im engeren Sinn kon­nte dage­gen keine Rede sein. Das änderte sich erst im Lauf der sechziger Jahre, unter dem Ein­druck des Erstarkens der Neuen Linken. Bis dahin gab es dur­chaus Bemerkun­gen über den „roten Heuß“ als einen der weni­gen Uni­ver­sität­slehrer, die sich früh für eine Hochschul­re­form stark macht­en, um den gewan­del­ten Ver­hält­nis­sen Rech­nung zu tra­gen. Angesichts des weltan­schaulichen Über­schnap­pens der Stu­den­ten­be­we­gung und der Renais­sance des Marx­is­mus bezog Heuß dann allerd­ings eine radikale Gegen­po­si­tion, deren Kerngedanken in einem 1975 erschiene­nen Band zur Ide­olo­giekri­tik ihre gültige For­mulierung fand.

Diese Zeit des unmit­tel­baren Ein­greifens in das Tages­geschehen war allerd­ings kurz. Ein Sachver­halt, der her­vorzuheben ist, obwohl das einzige im unmit­tel­baren Sinn poli­tis­che Buch aus der Fed­er von Heuß erst 1984 erschien. Der Band Ver­sagen und Ver­häng­nis. Vom Ruin deutsch­er Geschichte und ihres Ver­ständ­niss­es nahm bes­timmte Gedankengänge wieder auf, die Heuß schon 1959 unter dem Titel Ver­lust der Geschichte dargelegt hat­te. Jet­zt erhiel­ten sie allerd­ings eine prononciert nationale Wen­dung, die angesichts der Nationsvergessen­heit in der späten Bun­desre­pub­lik großes Auf­se­hen erregte, zumal nicht nur das Elend der fort­dauern­den Teilung the­ma­tisiert wurde, son­dern auch die Ver­drän­gung des Ver­lusts von Ost­deutsch­land und die Bere­itschaft die „Klit­terung“ der Geschichte, ins­beson­dere von pol­nis­ch­er Seite, unwider­sprochen zu akzep­tieren.

Obwohl sich Heuß niemals der intellek­tuellen Recht­en zuge­ord­net hat, wurde er von außen in den Zusam­men­hang mit Autoren wie Bernard Willms, Hans-Joachim Arndt, Hell­mut Diwald und Hans-Diet­rich Sander gebracht, die aus­drück­lich an ein­er „Rena­tion­al­isierung“ des deutschen Bewußt­seins arbeit­eten. Eine Ein­schätzung, deren sach­liche Richtigkeit man nicht bestre­it­en kann.

Alfred Heuß starb am 7. Feb­ru­ar 1995 in Göt­tin­gen.

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Zitat:

Der his­torische Bil­dungs­stand ist bei uns der­ar­tig herun­tergekom­men, daß sich kaum noch jemand klar­ma­cht, was damals wirk­lich geschah: näm­lich die Dez­imierung der Sub­stanz des deutschen Volkes, bei der es nicht nur um eine Unsumme grausamer Einzelschick­sale geht, son­dern um einen nicht regener­ier­baren Ver­lust, um ein Phänomen also, das man in Analo­gie zu Genozid mit der Beze­ich­nung „Phy­lozid“ („Stammestö­tung“) bele­gen müßte, denn es gibt von nun an keine Schle­si­er, Pom­mern, Ost­preußen, Sude­tendeutsche usw. mehr.

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Schriften:

  • Ver­lust der Geschichte, Göt­tin­gen 1959
  • Römis­che Geschichte, Braun­schweig 1960 (6. Auflage, Pader­born 1998)
  • Zur The­o­rie der Welt­geschichte, Berlin 1968
  • Ide­olo­giekri­tik, Berlin 1975
  • Ver­sagen und Ver­häng­nis. Vom Ruin deutsch­er Geschichte und ihres Ver­ständ­niss­es, Berlin 1984
  • Gesam­melte Schriften. Bd 1: Griechis­che Geschichte, Bd 2: Römis­che Geschichte, Bd 3: Wis­senschafts­geschichte und ‑the­o­rie, Völk­er­recht, Uni­ver­sitäts- und Schul­re­form, hrsg. von Jochen Ble­ick­en, Stuttgart 1995

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Lit­er­atur:

  • Jochen Ble­ick­en: Zum Tode von Alfred Heuß, in: His­torische Zeitschrift 262 (1996)
  • Ste­fan Rebenich: Alfred Heuß: Ansicht­en seines Lebenswerkes. Mit einem Anhang: Alfred Heuß im Drit­ten Reich, in: His­torische Zeitschrift 271 (2000)