Alfred Heuß, gerboren am 27. Juni 1909 in Gautzsch (bei Leipzig), gehörte zu den bedeutenden deutschen Gelehrten des 20. Jahrhunderts. Sein Ruhm gründete zuerst in seiner überragenden Leistung als Althistoriker. Aber die Weite seines Horizonts zeichnete sich früh ab, im Grunde schon, als er nach dem Studium der Klassischen Philologie, Geschichte und Philosophie in Leipzig, Wien und Tübingen, das er mit der Promotion zum Dr. phil. abschloß, auch noch einen juristischen Doktortitel erwarb. Obwohl Heuß Schüler von Helmut Berve war, der nach 1933 zu den regimenahen Vertretern der Alten Geschichte gehörte, hielt er selbst Distanz und paßte sich lediglich äußerlich den Verhältnissen an. Heuß erhielt bereits 1941 eine Professur in Breslau, wechselte bei Kriegsende nach Kiel, dann nach Köln, kehrte Ende der vierziger Jahre noch einmal nach Kiel zurück, um dann von 1954 bis zu seiner Emeritierung ein Ordinariat an der Universität Göttingen innezuhaben.
Die wichtigste wissenschaftliche Leistung von Heuß war ohne Zweifel die Abfassung seiner Römischen Geschichte (zuerst 1960), die, immer wieder aufgelegt, zu den beeindruckendsten Leistungen der deutschen Historiographie im 20. Jahrhundert gehört. Daneben gab es zahlreiche Spezialuntersuchungen zu verschiedenen Aspekten der Antike aus seiner Feder, insbesondere die Zeit des Hellenismus und die römische Entwicklung betreffend. Allerdings wurde früh erkennbar, daß Heuß‘ Anspruch über die Deutung dieses doch verhältnismäßig schmalen Ausschnitts der Geschichte hinausging. Ein Tatbestand, der etwa an der Mitherausgeberschaft der Propyläen Weltgeschichte abzulesen war und dann an mehreren großen Essays, mit denen er Ansätze für die Deutung der Universalhistorie erarbeitete (Zur Theorie der Weltgeschichte, 1968).
Wer wollte, konnte schon an dieser Stelle eine konservative Weltauffassung feststellen, die weder in Zivilisationspessimismus versank, noch dem Fortschrittsgedanken huldigte, sondern die Kulturen als Ausdruck des menschlichen Formwillens deutete, deren Existenz nicht nur von den Individuen abhängt, sondern auch von Gesetzmäßigkeiten, die ihr Entstehen, ihre Durchsetzung oder ihr Scheitern, ihre Transformation oder ihr Ende mitbestimmen. Von einer politischen Stellungnahme im engeren Sinn konnte dagegen keine Rede sein. Das änderte sich erst im Lauf der sechziger Jahre, unter dem Eindruck des Erstarkens der Neuen Linken. Bis dahin gab es durchaus Bemerkungen über den „roten Heuß“ als einen der wenigen Universitätslehrer, die sich früh für eine Hochschulreform stark machten, um den gewandelten Verhältnissen Rechnung zu tragen. Angesichts des weltanschaulichen Überschnappens der Studentenbewegung und der Renaissance des Marxismus bezog Heuß dann allerdings eine radikale Gegenposition, deren Kerngedanken in einem 1975 erschienenen Band zur Ideologiekritik ihre gültige Formulierung fand.
Diese Zeit des unmittelbaren Eingreifens in das Tagesgeschehen war allerdings kurz. Ein Sachverhalt, der hervorzuheben ist, obwohl das einzige im unmittelbaren Sinn politische Buch aus der Feder von Heuß erst 1984 erschien. Der Band Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses nahm bestimmte Gedankengänge wieder auf, die Heuß schon 1959 unter dem Titel Verlust der Geschichte dargelegt hatte. Jetzt erhielten sie allerdings eine prononciert nationale Wendung, die angesichts der Nationsvergessenheit in der späten Bundesrepublik großes Aufsehen erregte, zumal nicht nur das Elend der fortdauernden Teilung thematisiert wurde, sondern auch die Verdrängung des Verlusts von Ostdeutschland und die Bereitschaft die „Klitterung“ der Geschichte, insbesondere von polnischer Seite, unwidersprochen zu akzeptieren.
Obwohl sich Heuß niemals der intellektuellen Rechten zugeordnet hat, wurde er von außen in den Zusammenhang mit Autoren wie Bernard Willms, Hans-Joachim Arndt, Hellmut Diwald und Hans-Dietrich Sander gebracht, die ausdrücklich an einer „Renationalisierung“ des deutschen Bewußtseins arbeiteten. Eine Einschätzung, deren sachliche Richtigkeit man nicht bestreiten kann.
Alfred Heuß starb am 7. Februar 1995 in Göttingen.
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Zitat:
Der historische Bildungsstand ist bei uns derartig heruntergekommen, daß sich kaum noch jemand klarmacht, was damals wirklich geschah: nämlich die Dezimierung der Substanz des deutschen Volkes, bei der es nicht nur um eine Unsumme grausamer Einzelschicksale geht, sondern um einen nicht regenerierbaren Verlust, um ein Phänomen also, das man in Analogie zu Genozid mit der Bezeichnung „Phylozid“ („Stammestötung“) belegen müßte, denn es gibt von nun an keine Schlesier, Pommern, Ostpreußen, Sudetendeutsche usw. mehr.
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Schriften:
- Verlust der Geschichte, Göttingen 1959
- Römische Geschichte, Braunschweig 1960 (6. Auflage, Paderborn 1998)
- Zur Theorie der Weltgeschichte, Berlin 1968
- Ideologiekritik, Berlin 1975
- Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses, Berlin 1984
- Gesammelte Schriften. Bd 1: Griechische Geschichte, Bd 2: Römische Geschichte, Bd 3: Wissenschaftsgeschichte und ‑theorie, Völkerrecht, Universitäts- und Schulreform, hrsg. von Jochen Bleicken, Stuttgart 1995
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Literatur:
- Jochen Bleicken: Zum Tode von Alfred Heuß, in: Historische Zeitschrift 262 (1996)
- Stefan Rebenich: Alfred Heuß: Ansichten seines Lebenswerkes. Mit einem Anhang: Alfred Heuß im Dritten Reich, in: Historische Zeitschrift 271 (2000)