Bürger

Bürg­er beze­ich­nete im deutschen Mit­te­lal­ter den Bewohn­er ein­er Ortschaft mit Fes­tungsan­lage (»Burg«), der inner­halb der Mauern leben durfte. Im weit­eren Sinn ist Bürg­er jedes Mit­glied ein­er Gemein­schaft von Freien unter ein­er Ver­fas­sung.

1. Staats­bürg­er: Ihre Urform hat die Staats­bürg­er­schaft in den griechis­chen Poleis der Antike, deren dif­feren­zierte For­men als Ver­bände von Freien ver­standen wur­den, die rechts- und pflicht­en­gle­ich waren. Klas­sisch ver­wirk­licht fand sich dieses Konzept durch die solonis­che Ver­fas­sung Athens, die man als »Isonomie«, das heißt »Gle­ich­heit des Geset­zes«, beze­ich­nete. Eine wichtige Voraus­set­zung war dabei immer die Regelung des Machtzu­gangs, die Abgren­zung der Bürg­er­schaft gegen Außen­ste­hende, Mit­be­wohn­er ohne Bürg­er­recht oder Unfreie. Ähn­liche Struk­turen bestanden in der römis­chen Repub­lik, in manchen europäis­chen Städten des Mit­te­lal­ters oder den Kan­to­nen der schweiz­erischen Eidgenossen­schaft. Eine auf dem Zusam­men­wirken der Staats­bürg­er beruhende Ord­nung haben viele mod­erne Ver­fas­sungs­the­o­retik­er als vor­bildlich betra­chtet. Allerd­ings sind mod­erne Staat­en schon wegen ihrer Größe von antiken Poleis grund­sät­zlich ver­schieden und neigen außer­dem zu ein­er Ent­gren­zung der Staats­bürg­er­schaft, die den immer labilen Zusam­men­halt weit­er gefährdet.

2. Wirtschafts­bürg­er: In ein­er seit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion üblichen Polemik wer­den Staats­bürg­er – citoyen – und Wirtschafts­bürg­er – bour­geois – einan­der gegenübergestellt. Die Ursache dafür ist eine noch ältere Kri­tik am Bürg­er als einem, der sein Ver­hal­ten auss­chließlich am Streben nach per­sön­lichem Gewinn aus­richtet. Aus­lös­er dieser Wahrnehmung war die große Bedeu­tung, die das Bürg­er­tum seit dem Mit­te­lal­ter für Entste­hung und Entwick­lung von Han­del und Gewerbe (dann auch Dien­stleis­tun­gen) gewon­nen hat­te. Gegenüber den Bauern und Han­dar­beit­ern ein­er­seits, dem feu­dalen Adel ander­er­seits, ent­stand eine Mit­telschicht, die nicht nur erhe­bliche Ver­mö­gen und damit wirtschaftliche und poli­tis­che Macht anhäufte, son­dern auch eine spez­i­fis­che Men­tal­ität aus­bildete. Bürg­er­lichkeit war dabei niemals ein ein­heitlich­es Phänomen, son­dern ver­band den Stolz auf Leis­tung und Besitz früh mit einem beson­deren Maß an Bil­dung, was zur Entste­hung eines bürg­er­lichen Elite­be­wußt­seins im 19. Jahrhun­dert wesentlich beitrug. Allerd­ings ist dieses Konzept schon vor dem Ersten Weltkrieg in eine Krise ger­at­en. Eine Ursache dafür war das Scheit­ern der lib­eralen Hoff­nun­gen auf eine freie und egal­itäre Ord­nung (Gerechtigkeit), eine zweite die Unfähigkeit, sich ohne Bünd­nis an der Macht zu hal­ten, eine dritte die Entste­hung der Mas­sen­ge­sellschaft, deren Ent­d­if­feren­zierung von bürg­er­lichen Kräften wesentlich forciert wor­den war, eine vierte die Zer­störung der ökonomis­chen Grund­la­gen bürg­er­lich­er Exis­tenz durch den mod­er­nen Anstalts- und Wohlfahrtsstaat. Die zen­trale Bedeu­tung bürg­er­lich­er Vorstel­lun­gen (Werte), von der Erziehung bis zur per­sön­lichen Lebens­gestal­tung, hat das allerd­ings nicht beseit­i­gen kön­nen und immer wieder Bewe­gun­gen entste­hen lassen, die eine »neue Bürg­er­lichkeit« anstreben.

3. Anti-Bürg­er: Wie unter 2. erwäh­nt gibt es Angriffe auf das Bürg­er­tum seit alter­sh­er. Diese Kri­tik kann the­ol­o­gisch, all­ge­mein-ethisch oder im beson­deren Sinn poli­tisch argu­men­tieren. Sie richtet sich eigentlich immer gegen den »krämerischen« beziehungsweise »kap­i­tal­is­tis­chen« (Markt) Geist, den Wun­sch nach Bere­icherung als eigentliche Triebfed­er des Han­delns und die Nei­gung, das pri­vate über das öffentliche Inter­esse zu stellen. Soweit es sich dabei um Vorhal­tun­gen aus dem Klerus, dem Adel oder der Arbeit­er­schaft han­delt, wird man deren Grup­pen­in­ter­esse in Rech­nung zu stellen haben. Allerd­ings fand der bürg­er­liche Geist immer auch Geg­n­er in den eige­nen Rei­hen.

Soweit es sich nicht um ein kün­st­lerisches oder son­st ästhetisch motiviertes Einzel­gänger­tum han­delte (das mit seinem Indi­vid­u­al­is­mus auch ein Pro­dukt bürg­er­lich­er Vorstel­lun­gen war), sticht beson­ders die Menge von Rev­o­lu­tions­be­für­wortern ins Auge, die im Namen der Unter­schicht die ökonomis­che Aus­beu­tung durch das Bürg­er­tum zu been­den sucht­en. Die schärf­sten Vorstöße kamen allerd­ings von seit­en der­jeni­gen, die den paz­i­fistis­chen und oppor­tunis­tis­chen Geist des bour­geois tödlich zu tre­f­fen sucht­en. Vorge­formt war das schon in der kon­ser­v­a­tiv­en Kri­tik an der »disku­tieren­den Klasse« (Juan Donoso Cortés), aber ihre endgültige Form gewann diese Art von Antibürg­er­lichkeit erst bei jenen Kri­tik­ern, die im Namen ein­er »Pro­duzen­ten­moral« oder eines neuen kriegerischen Ethos auf­trat­en; viele Spielarten des rev­o­lu­tionären Nation­al­is­mus im 20. Jahrhun­dert (Sol­datis­ch­er Nation­al­is­mus, Nation­al­sozial­is­mus, Nation­al­bolschewis­mus, Faschis­mus, Sozial­is­mus) wur­den von entsprechen­den Vorstel­lun­gen angetrieben.

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Zitate:

Bürg­er­lich­er Beruf als Form des Lebens bedeutet in erster Lin­ie das Pri­mat der Ethik im Leben; daß das Leben durch das beherrscht wird, was sich sys­tem­a­tisch, regelmäßig wieder­holt, durch das, was pflicht­gemäß wiederkehrt, durch das, was getan wer­den muß ohne Rück­sicht auf Lust oder Unlust. Mit anderen Worten: die Herrschaft der Ord­nung über die Stim­mung, des Dauern­den über das Momen­tane, der ruhi­gen Arbeit über die Genial­ität, die von Sen­sa­tio­nen gespeist wird.
Georg von Lukács

Der bürg­er­liche Men­sch als solch­er ist feige.
Max Hilde­bert Boehm

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Lit­er­atur:

  • Max Hilde­bert Boehm: Der Bürg­er im Kreuzfeuer, Göt­tin­gen 1933.
  • Gün­ter Meuter und Hen­rique Ricar­do Otten (Hrsg.): Der Auf­s­tand gegen den Bürg­er. Antibürg­er­lich­es Denken im 20. Jahrhun­dert, Würzburg 1999.
  • Wern­er Som­bart: Der Bour­geois [1913], zulet­zt Berlin 2003.
  • Thorstein Veblen: The­o­rie der feinen Leute [1899], zulet­zt Frank­furt a. M. 2007.