Der Begriff des Politischen — Carl Schmitt, 1932

Carl Schmitt geht es in sein­er Abhand­lung Der Begriff des Poli­tis­chen – zuerst 1927 als Auf­satz veröf­fentlicht – darum, einen Aus­gangspunkt für die Annäherung an die poli­tis­chen Phänomene sein­er Zeit zu schaf­fen. Seine hier vorgenommene Begriffs­bes­tim­mung des Poli­tis­chen ist daher eng mit der dama­li­gen Lage Deutsch­lands verknüpft, die sich mit den Schlag­worten Ver­sailles, Repa­ra­tions­frage und Rhein­landbe­set­zung umschreiben läßt.

Schmitt set­zt dabei nicht zu ein­er inhaltlichen Def­i­n­i­tion des Poli­tis­chen an, wie sie etwa Max Weber for­muliert hat. Er betra­chtet es vielmehr als Kri­teri­um, das Begrif­f­en wie Staat, Volk oder Krieg zugrunde liegt, und ohne welch­es sie nicht in ihrer vollen Bedeu­tung ver­standen wer­den kön­nen. Das Poli­tis­che hat für ihn seinen Sinn in der exis­ten­tiellen Unter­schei­dung von Fre­und und Feind, der den Gegen­sätzen von Gut und Böse im Bere­ich der Moral und von Schön und Häßlich in der Ästhetik entspricht. Die Eigen­ständigkeit des Poli­tis­chen ergibt sich daraus, daß seine Kri­te­rien keinen dieser anderen Gegen­sätze voraus­set­zen. Ein Feind muß wed­er moralisch böse noch häßlich sein. Der Begriff »Feind« darf nicht dahinge­hend mißver­standen wer­den, daß mit ihm automa­tisch eine gefühlsmäßige Abnei­gung ver­bun­den ist (auch wenn es oft zusam­men auftritt).

Es muß hier, so Schmitt, zwis­chen dem öffentlichen und damit poli­tis­chen Feind, hostis, und dem pri­vat­en Intim­feind, inim­i­cus, unter­schieden wer­den. Dem Poli­tis­chen ist eine beson­dere  Dynamik eigen, die darin beste­ht, daß jed­er Gegen­satz – ob religiös, sozial oder ökonomisch – sich in einen poli­tis­chen ver­wan­deln kann, wenn er eine Inten­sität erre­icht, die eine  Feindbes­tim­mung ermöglicht. Es kommt lediglich auf den Willen ein­er poli­tis­chen Ein­heit an, sich in ihrem exis­ten­tiellen Sein zu behaupten. Schmitts Def­i­n­i­tion des Poli­tis­chen zeich­net
sich dadurch aus, daß sie nicht von ein­er Gle­ich­set­zung der Begriffe Staat und Poli­tik aus­ge­ht. Der Staat ist dem­nach nur eine unter bes­timmten his­torischen Umstän­den ent­standene Form poli­tis­ch­er Organ­i­sa­tion, die nicht als abso­lut ange­se­hen wer­den darf. So kön­nen auch religiöse Gemein­schaften und soziale Klassen zu Ein­heit­en mit poli­tis­chem Charak­ter wer­den, wenn sie aus­re­ichend Kraft besitzen, ihren Feind zu bes­tim­men, und sich auch tat­säch­lich in der Lage befind­en, Krieg gegen ihn zu führen.

Nach Schmitt ist eine echte poli­tis­che Ein­heit näm­lich stets am Ern­st­fall, der Möglichkeit des Krieges, ori­en­tiert und damit sou­verän. Die exis­ten­tielle Bedeu­tung der Poli­tik läßt sich let­ztlich daraus ableit­en, daß sie die physis­che Ver­nich­tung des einzel­nen als äußer­ste Möglichkeit stets bein­hal­tet. Zum Poli­tis­chen gehört grund­sät­zlich etwas Bedrohlich­es, das auf den Aus­bruch eines Kon­flik­tes hin­wirkt. Das Ver­di­enst des Staates als Pro­dukt der Glauben­skriege des 16. und 17. Jahrhun­derts ist die Befriedung inner­halb eines Ter­ri­to­ri­ums. Durch seinen Nieder­gang ist diese Sicher­heit jedoch Ver­gan­gen­heit, und die poli­tis­chen Gegen­sätze kön­nen sich, ohne eine Ein­halt gebi­etende Instanz, unge­hin­dert ent­fal­ten. Ein »Welt­staat« kann dieser Entwick­lung nicht
ent­ge­gen­treten, weil er ein Wider­spruch in sich ist. Eine uni­ver­sale, die gesamte Men­schheit umfassende Ein­heit kann es erst geben, wenn das Poli­tis­che und damit auch die Möglichkeit eines poli­tis­chen Gegen­satzes nicht mehr existiert.

Das Poli­tis­che muß als ein unumgänglich­es Fak­tum betra­chtet wer­den, dem kein Volk ent­ge­hen kann. Einem Kollek­tiv, das sich nicht mehr behaupten will oder kann, weil es nicht mehr in der Lage ist, seinen wirk­lichen Feind zu bes­tim­men, wird unweiger­lich eine fremde Feindbes­tim­mung aufgezwun­gen wer­den. Diese Unter­w­er­fung geschieht laut Schmitt häu­fig durch die Propagierung human­itär­er Ide­ale, welche die wahre Machtkon­stel­la­tion dahin­ter ver­schleiern sollen. Es ist also notwendig, solche moral­isieren­den Vernebelun­gen zu durch­schauen, um den wahren Feind zu erken­nen.

Die Beschwörung des Wohles der Men­schheit gehört auch heute zum Stan­dard­vok­ab­u­lar der­jeni­gen, die ihre Macht sich­ern oder erweit­ern wollen. Doch die Men­schheit kann kein poli­tis­ches Sub­jekt sein, weil es für sie keine Feindbes­tim­mung geben kann: »Wer Men­schheit sagt, will betrü­gen.« Schmitt betont damit den polemis­chen Charak­ter poli­tis­ch­er Begriffe. Diese haben nur vor dem Hin­ter­grund konkreter poli­tis­ch­er Gegen­sätze einen Sinn. Mit Bezug auf die Lage nach dem Ersten Weltkrieg erwäh­nt er die innerdeutsche Debat­te darüber, ob die nach der Nieder­lage von Deutsch­land erzwun­genen Zahlun­gen an Frankre­ich als »Repa­ra­tio­nen« oder »Trib­ute« beze­ich­net wer­den soll­ten, was ein­er jew­eils unter­schiedlichen poli­tis­chen Stel­lung­nahme gle­ichkommt.

Schmitt weist darauf hin, daß jed­er poli­tis­chen Idee – bewußt oder unbe­wußt – stets ein bes­timmtes Men­schen­bild zugrunde liegt. Der Lib­er­al­is­mus geht von der Güte des Men­schen aus und hält somit die Gesellschaft für maßgebend, während der Staat lediglich geduldet wird. Er verneint ihn nicht völ­lig, wie dies kon­se­quenter­weise der Anar­chis­mus tut, kann ihn aber nicht als Grund­lage der Ord­nung allen men­schlichen Lebens anerken­nen. Dage­gen muß eine echte poli­tis­che The­o­rie den Men­schen stets als »böse« voraus­set­zen, sich zumin­d­est seines schwank­enden, prob­lema­tis­chen Charak­ters bewußt sein, um die Möglichkeit eines Gegen­satzes von Fre­und und Feind nicht zu überse­hen.

Der Lib­er­al­is­mus erhält seine Legit­i­ma­tion nicht nur aus dem Bere­ich der Moral, son­dern auch dem der Ökonomie. Die Wirtschaft wird zum Schick­sal und gibt alle Fra­gen und Antworten vor. Lib­er­al­is­mus läuft also immer darauf hin­aus, das Poli­tis­che mit­tels der Moral und der Ökonomie zurück­zu­drän­gen. Daß er nur zu ein­er Antipoli­tik fähig ist, liegt an seinem Indi­vid­u­al­is­mus.
Wer das Indi­vidu­um an erste Stelle set­zt, kann auch nicht das Opfer des einzel­nen ver­lan­gen. Damit aber ist die Begrün­dung jed­er umfassenden Ein­heit unmöglich gemacht – und der Weg in Chaos und Unter­gang geeb­net.

Der Begriff des Poli­tis­chen hat von allen Schriften Schmitts ver­mut­lich die größte Res­o­nanz erfahren. Durch sie sah er sich zahlre­ichen Mißver­ständ­nis­sen (Vor­wurf des Bel­lizis­mus) aus­ge­set­zt, die bis heute anhal­ten. Im Nach­wort zur ersten Nachkriegsaus­gabe von 1963 erblickt Schmitt eine der Ursachen dafür in der abstrak­ten Fre­und-Feind-Formel am Anfang des Buch­es. Diese grif­fige For­mulierung hat jedoch wesentlich zum Erfolg der Schrift beige­tra­gen, die nicht zulet­zt Schmitts Fre­und­schaft mit Ernst Jünger begrün­dete.

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Zitat:

Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Poli­tis­chen zu hal­ten, ver­schwindet das Poli­tis­che nicht aus der Welt. Es ver­schwindet nur ein schwach­es Volk.

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Aus­gabe:

  • Syn­op­tis­che Darstel­lung der Texte, im Auf­trag der Carl-Schmitt-Gesellschaft her­aus­gegeben von Mar­co Wal­ter, Berlin: Dunck­er & Hum­blot 2018

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Lit­er­atur:

  • Hel­mut Quar­itsch: Posi­tio­nen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1995
  • Thor von Wald­stein: Der Beutew­ert des Staates. Carl Schmitt und der Plu­ral­is­mus, Graz 2008