Erbe

Erbe beze­ich­net die Menge dessen, was von den Vor­fahren an die heute Leben­den weit­ergegeben wurde. Alle tra­di­tionalen Kul­turen waren der Überzeu­gung, daß man sich diesem Erbe gegenüber pietätvoll ver­hal­ten müsse, da es sich nicht nur um materielle Güter, son­dern auch um die damit ver­bun­de­nen Werte han­dele: das Erbe verpflichtet. Die notorische Beru­fung der Römer auf den mos maio­rum – »die Sitte der Alten« – ist so zu ver­ste­hen.

Alle Hochschätzung der Tra­di­tion beruht let­ztlich auf der Absicht, das Erbe zu scho­nen. Allerd­ings ist die Tra­di­tion nicht zu ver­ste­hen als ein unter­schied­slos­es Auf­be­wahren des Erbe; Goethes Rede vom Erbe – »Was du ererbt von deinen Vätern, / erwirb es, um es zu besitzen« – bringt das Para­dox zum Aus­druck, daß es mit der pas­siv­en Über­nahme des Erbes nicht getan ist, son­dern dessen Erhal­tung aktive Aneig­nung ver­langt.

Kon­ser­v­a­tive Gedankengänge umkreisen immer wieder diesen Punkt, wobei fest­ste­ht, daß das Erbe eine grund­sät­zlich wohltätige Macht ist, daß die Ver­weigerung oder die Vergeudung des Erbes nicht nur im pri­vat­en Fall, son­dern auch im größeren Zusam­men­hang zu verurteilen sei.

Diese Grund­hal­tung erk­lärt wahrschein­lich, warum sich Kon­ser­v­a­tive immer mit beson­der­er Aufgeschlossen­heit für das Prob­lem­feld »Umwelt – Vererbung« inter­essiert haben. Während bis in die 1960er Jahre eine Art All­t­agswis­sen voraus­ge­set­zt wer­den kon­nte, das besagte, die Men­schen (Indi­viduen wie Grup­pen) seien in bezug auf ihre Ausstat­tung mit Fähigkeit­en und Tal­en­ten von vorn­here­in ver­schieden, bre­it­ete sich sei­ther die Annahme aus, man könne eine »anthro­pol­o­gis­che Rev­o­lu­tion« (Her­bert Mar­cuse) durch­führen, die es erlaube, voraus­set­zungs­los vom Men­schen zu denken und ihn nach einem utopis­chen Erziehungs– und Gesellschaft­skonzept zu for­men.

Obwohl die Kon­ser­v­a­tiv­en sich für ihre Annahme, daß von einem Übergewicht der Vererbung auszuge­hen sei, auf Ergeb­nisse der empirischen Psy­cholo­gie und Sozi­olo­gie eben­so berufen kon­nten wie auf Ver­hal­tens­forschung und Genetik, set­zte sich in der west­lichen Welt die Auf­fas­sung durch, daß der Men­sch bei Geburt »ein weißes Blatt Papi­er« sei, auf das sich nach Belieben Zeichen ein­tra­gen lassen. Dieser Ansicht war argu­men­ta­tiv nicht beizukom­men, da sie viel zu sehr dem Fortschrittsop­ti­mis­mus und den Weltbe­mäch­ti­gungsphan­tasien des 20. Jahrhun­derts entsprach.

Erst an dessen Ende begann sich eine gewisse Ernüchterung bre­itzu­machen. Dabei wur­den die Ein­schätzun­gen deut­lich zugun­sten der kon­ser­v­a­tiv­en Posi­tio­nen kor­rigiert, das aber nur in prag­ma­tis­ch­er Hin­sicht, nicht etwa grund­sät­zlich, was ein Auseinan­derk­laf­fen etwa der sozialpoli­tis­chen Prax­is und deren Legit­i­ma­tion zur Folge hat, ohne daß diese Wider­sprüche aus­re­ichend the­ma­tisiert wür­den.

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Zitate:

Wir leben, um zu hin­ter­lassen.
Arthur Moeller van den Bruck

Wenn in der genetis­chen End­bi­lanz von Gen­er­a­tion zu Gen­er­a­tion nur das berück­sichtigt wird, was pro Gen und Geno­typ an rel­a­tiv­er Fit­neß gewon­nen oder ver­loren wurde, so liegt es nicht ganz fern, in diesen primären Antrieben und ihren neu­roen­dokri­nen Mech­a­nis­men die Garan­ten dafür zu sehen, daß das kul­turelle Ver­hal­ten im Durch­schnitt an der Leine biol­o­gis­ch­er Fit­neßim­per­a­tive bleibt.
Hubert Markl

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Lit­er­atur:

  • Gus­tav Hillard: Recht auf Ver­gan­gen­heit, Ham­burg 1966.
  • Gerd-Klaus Kaltenbrun­ner: Wege der Welt­be­wahrung, Asendorf 1985.
  • Hubert Markl (Hrsg.): Natur und Geschichte, Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Bd 7, München und Wien 1983.