Geschichtspolitik

Geschicht­spoli­tik beze­ich­net grund­sät­zlich jeden Umgang mit der Ver­gan­gen­heit zum Zweck der Iden­titätss­tiftung im öffentlichen Raum. Solche Geschicht­spoli­tik haben seit jeher alle Sozial­for­men (Gemein­schaft, Gesellschaft) gepflegt, die ihren Bestand dadurch sich­ern woll­ten, daß sie diesen eben­so wie ihr Entste­hen als sin­nvollen his­torischen Prozeß inter­pretierten und diese Inter­pre­ta­tion autori­ta­tiv durchzuset­zen sucht­en.
 
Während es unter dem Ein­fluß der “zweit­en Aufk­lärung” üblich war, die Heil­samkeit solch­er Geschicht­spoli­tik zu bestre­it­en oder dem Geg­n­er zu unter­stellen, daß er Geschicht­spoli­tik im Sinne der Ablenkung durch falsches Bewußt­sein betreibe, beste­ht heute ein bre­it­er Kon­sens im Hin­blick auf die Notwendigkeit. In allen west­lichen Natio­nen, in den außereu­ropäis­chen sowieso, ist deshalb seit ger­aumer Zeit eine Rück­wen­dung zur Ver­gan­gen­heit zu beobacht­en.
 
Um so beden­klich­er muß es deshalb erscheinen, wenn in Deutsch­land fast nur eine neg­a­tive Geschicht­spoli­tik betrieben wird. “Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung” ist ein hier seit den 1960er Jahren in Gebrauch gekommen­er Begriff, um die aktive Auseinan­der­set­zung mit dem Nation­al­sozial­is­mus und den durch das NS-Regime began­genen Ver­brechen zu beze­ich­nen.
 
Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung unter­schei­det sich mit der Beto­nung der aktiv­en Kom­po­nente (“Trauer­ar­beit”) von ähn­lichen Ter­mi­ni wie “unbe­wältigte Ver­gan­gen­heit”, “Ver­häng­nis der Geschichte” etc. Das Ziel der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung soll die Läuterung der Nation durch Erin­nerung und Erschüt­terung sein. Diese qua­sithe­ol­o­gis­che Dimen­sion und das Engage­ment viel­er intellek­tuell ein­flußre­ich­er Per­sön­lichkeit­en in den Debat­ten über die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung (etwa Eugen Kogon, Karl Jaspers, Alexan­der Mitscher­lich, Jür­gen Haber­mas) dür­fen aber nicht darüber hin­wegtäuschen, daß es sich um ein poli­tis­ches Instru­ment han­delte und han­delt, mit dem in erster Lin­ie poli­tis­che Zwecke ver­fol­gt wer­den.
 
Ein Mod­ell von Armin Mohler erweit­ernd, kann man vier Phasen der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung unter­schei­den:
 
Phase 1: Vom Kriegsende bis 1946; Phase der inten­siv­en Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung unter direk­ter Kon­trolle der Besatzungsmächte, die ihr schon während des Krieges ent­wor­fenes Pro­gramm zur Ent­naz­i­fizierung und Umerziehung auf die Annahme stützten, daß die Deutschen ein­er all­ge­meinen moralis­chen Reini­gung und Neuori­en­tierung bedürften. Aus durch­sichti­gen Grün­den erk­lärte die Sow­je­tu­nion diesen Prozeß in ihrem Macht­bere­ich sehr früh für abgeschlossen und verzichtete anders als die West­mächte auf die Behaup­tung, daß die mit­teldeutsche Bevölkerung irgen­deine Ver­ant­wor­tung für das NS-Regime trage.
 
Phase 2: Von 1946 bis 1959; Phase deut­lich abgeschwächter Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung infolge des Kalten Krieges. In den West­zo­nen wie in der Ost­zone mußte ver­stärkt auf Fach­leute zurück­ge­grif­f­en wer­den, die man bis dahin als durch ihre NS-Ver­gan­gen­heit belastet eingestuft hat­te. Das hing damit zusam­men, daß die West­mächte und die Sow­je­tu­nion in erster Lin­ie ihre Ein­flußbere­iche sta­bil­isieren woll­ten. Hier wie dort wur­den die Forderun­gen nach ein­er umfassenden Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung spätestens zurückgenom­men, als sich im Kore­akrieg abze­ich­nete, daß man die deutschen Teil­staat­en aufrüsten würde, um die eigene mil­itärische Belas­tung in Europa zu ver­ringern.
 
Phase 3: Von 1959 bis 1968; mit dieser Zurück­hal­tung war es vor­bei, nach­dem USA und UdSSR im Gefolge der Kuba- und der Berlinkrise die “Entspan­nung” ein­leit­eten. Die Poli­tik der détente ging über die Inter­essen ihrer jew­eili­gen Alli­ierten hin­weg, ins­beson­dere wurde der Bun­desregierung von Wash­ing­ton deut­lich gemacht, daß der Beitritt zur NATO keineswegs das Ziel der Wiedervere­ini­gung in größere Nähe gerückt hat­te. Die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung ent­fal­tete jet­zt als poli­tis­ches Diszi­plin­ierungsmit­tel ein erhe­blich­es Maß an Wirk­samkeit und wurde entsprechend von außen wie von innen genutzt. 
 
Phase 4: Von 1968 bis zur Gegen­wart; der Wider­stand gegen die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung schwand in dem Maß, in dem sich eine jün­gere Gen­er­a­tion ihrer bedi­ente und in der Zeit der APO darang­ing, den Hin­weis auf die Last der deutschen Geschichte als argu­men­ta­tiv­en Schlage­tot zu ver­wen­den. Der “Marsch durch die Insti­tu­tio­nen” hat­te bis zum Ende der 1980er Jahre auch die Folge, daß die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung als Teil der west­deutschen “Zivil­re­li­gion” (Poli­tis­che The­olo­gie) etabliert wer­den kon­nte. Die Ver­suche der Bürg­er­lichen, dem ent­ge­gen­zutreten, blieben halb­herzig und fie­len nach der Nieder­lage im His­torik­er­stre­it von 1986 völ­lig in sich zusam­men.
 
Der His­torik­er­stre­it hat auch deut­lich gemacht, daß die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung nach Mei­n­ung ihrer Befür­worter ein Alle­in­stel­lungsmerk­mal der Deutschen sein muß. Es gehört zu ihren Grundüberzeu­gun­gen, daß kein anderes Men­schheitsver­brechen eine ähn­liche Anstren­gung ver­lange. Daher auch die Empfind­lichkeit, mit der auf der “Unver­gle­ich­barkeit” der nation­al­sozial­is­tis­chen Massen­tö­tun­gen behar­rt wird.
 
Die beson­ders nahe­liegende Forderung nach ein­er Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung in bezug auf den Kom­mu­nis­mus und den von seinen Führern befohle­nen Klassen­mor­den und Eth­nozi­den wird fak­tisch nie erhoben. Auch eine gewisse Ähn­lichkeit der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung mit der “Poli­tik der Schuld” (Paul Got­tfried), wie sie in der ganzen west­lichen Welt betrieben wird und im Hin­blick auf Kolo­nial­is­mus, Völk­er­mord an Einge­bore­nen oder Sklaven­han­del Schuld­be­wußt­sein und Wiedergut­machungs­bere­itschaft der Weißen fordert, beste­ht nur for­mal.
 
Die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung unter­schei­det sich im Hin­blick auf die Inten­sität, mit der sie betrieben wird, und das poli­tis­che Gewicht ihrer Ver­fechter. Die Kri­tik an der  Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung ist eben­so alt wie das Phänomen selb­st. Dabei spielte anfangs das Gerechtigkeit­sempfind­en der Erleb­nis­gen­er­a­tion eine wichtige Rolle, die unter Krieg und Nachkrieg in einem Maß gelit­ten hat­te, daß ihr eine darüber hin­aus­ge­hende Buße unnötig erschien.
 
Damit im Zusam­men­hang stand die entsch­iedene Ablehnung der von den Alli­ierten einge­führten Kollek­tivschuldthese. Sehr früh wurde auch auf die innere Wider­sprüch­lichkeit der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung hingewiesen, deren Ziel — die Läuterung — eigentlich irgend­wann mit der Abso­lu­tion erre­icht sein mußte, während doch die Betreiber der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung immer erk­lärten, daß es einen solchen “Schlußpunkt” nicht geben werde.
 
Weit­er hat man im Zusam­men­hang mit dem wach­senden zeitlichen Abstand (und der Zunahme von Bevölkerungsan­teilen mit “Migra­tionsh­in­ter­grund”) darauf hingewiesen, daß die Vorstel­lung ein­er spez­i­fisch deutschen Schuld entwed­er dazu zwinge, diese als erblich anzuse­hen oder aber einen men­schheitlichen Charak­ter zu behaupten. Alle anderen For­men der Kri­tik richteten sich entwed­er auf die unheil­vollen psy­chis­chen (kollek­tive Neu­ro­tisierung, neg­a­tiv­er Nation­al­is­mus), wirtschaftlichen (“Holo­caust-Indus­trie”) oder poli­tis­chen Kon­se­quen­zen der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung (Erpreßbarkeit, Unfähigkeit zur Selb­st­be­haup­tung). 
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Zitate:
Es ist ein selt­sames Phänomen, daß die Deutschen sich kat­e­gorisch weigern, mildere Hal­tun­gen ander­er Völk­er zur deutschen Schuld im Rah­men ein­er selb­stkri­tis­chen Auseinan­der­set­zung zur Ken­nt­nis zu nehmen — als woll­ten sie vor allem den Aus­nah­mecharak­ter ihrer Schuld eifer­süchtig schützen.
Andreas Krause Landt
 
Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung ist der Ebbe und Flut der Welt­poli­tik unter­wor­fen; die Deutschen mußten nicht bewälti­gen, solange sie vom Aus­land gebraucht wur­den.
Armin Mohler
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Lit­er­atur:
  • Paul Got­tfried: Mul­ti­kul­tur­al­is­mus und die Poli­tik der Schuld, Graz 2004
  • Nor­man Finkel­stein: Holo­caustin­dus­trie, München 2000
  • Alfred Heuß: Ver­sagen und Ver­häng­nis. Vom Ruin deutsch­er Geschichte und ihres Ver­ständ­niss­es, Berlin 1984
  • Insti­tut für Staat­spoli­tik (Hrsg.): “Meine Ehre heißt Reue”. Der Schuld­stolz der Deutschen, Wis­senschaftliche Rei­he, H. 11, Schnell­ro­da 2009
  • Armin Mohler: Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung [1968], zulet­zt Krefeld 1981
  • Armin Mohler: Der Nasen­ring. Die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung vor und nach dem Fall der Mauer, München [1991], zulet­zt München 1996