Gesellschaft

Gesellschaft ist ein Begriff, der dem lateinis­chen soci­etas beziehungsweise soci­etas civilis entspricht. Die Bedeu­tung schwankt in der Geschichte erhe­blich, im all­ge­meinen beze­ich­net Gesellschaft aber eine auf irgen­deine Art und Weise ver­bun­dene Vielzahl von Men­schen.
 
In dem Sinn wußte schon die antike poli­tis­che Philoso­phie von der Gesellschaft, da sie den Men­schen als “poli­tis­ches” beziehungsweise “soziales” Wesen bes­timmte. Seine poli­tis­che Aufladung erhielt der Begriff jedoch erst in der europäis­chen Neuzeit (Mod­erne), und zwar dadurch, daß er dem “Staat” wie der “Kirche” ent­ge­genge­set­zt wer­den kon­nte. Seit dem 18. Jahrhun­dert wurde Gesellschaft neben “Nation” zu einem der “Grund­be­griffe der rev­o­lu­tionären Epoche” (Wern­er Conze).
 
Das hing wesentlich damit zusam­men, daß man Gesellschaft wie Nation nicht länger sta­tisch auf­faßte, son­dern dynamisch und damit die Selb­ständigkeit neben Staat und Reli­gion ein­deutiger faßbar machte. Trotz­dem gehörte der Gesellschafts­be­griff zu den “schwierig­sten”, da es erhe­blich­er Mühe bedurfte, um “hin­ter der bish­er bekan­nten Welt und ihrer Ord­nung einen anderen noch großar­tigeren Organ­is­mus von Kräften und Ele­menten” (Lorenz von Stein) zu erken­nen. Die damals neu ent­standene Gesellschaft­slehre beziehungsweise Sozi­olo­gie war ganz wesentlich von Kon­ser­v­a­tiv­en geprägt wor­den, fiel aber rasch in die Hand ihrer poli­tis­chen Geg­n­er, da der Begriff der Gesellschaft noch mehr als der der Nation mit ein­er utopis­chen Ver­heißung aufzufüllen war, in dem Sinn, daß die “wahre” Gesellschaft erst in der Zukun­ft — etwa durch einen neuen Gesellschaftsver­trag — zu grün­den sei.
Diese beson­dere ide­ol­o­gis­che Ladung erk­lärt auch, warum der Gesellschafts­be­griff allmäh­lich nach links rück­te, während die Nation, die ein Mehr an Sta­bil­ität und Kon­ti­nu­ität ver­hieß, immer deut­lich­er als “recht­es” Konzept wahrzunehmen war. Mit dem Auf­stieg von Gesellschaft zum Leit­be­griff der Gesellschaftsverän­der­er wuchs die Vorstel­lung, daß die Gesellschaft fast beliebig kon­stru­ier­bar sei, während an der Nation etwas haftete, was sie mit der Idee der Gemein­schaft und Ganzheitsvorstel­lun­gen ver­band.
 
Das erk­lärt ein­er­seits, warum Gesellschaft in vie­len kon­ser­v­a­tiv­en Gesellschaft­s­the­o­rien als Ver­fall­spro­dukt der Gemein­schaft aufge­faßt wurde, die sich lediglich “neg­a­tiv” (Fer­di­nand Tön­nies) bes­tim­men lasse, insofern sie ein­er Menge von einzel­nen bei Durch­set­zung indi­vidu­eller Inter­essen diene. Ander­er­seits sahen die Pro­gres­siv­en hier eine Möglichkeit, “gesellschaftlich” oder “sozial” als Kampf­be­griff einzuführen, der in erster Lin­ie dazu diente, egal­itäre Zielvorstel­lun­gen zu recht­fer­ti­gen. In der poli­tis­chen Philoso­phie Bertrand Rus­sells waren “sozial” und “unsozial” sog­ar Syn­onyme für “gut” und “böse”. Die im Namen der Gesellschaft erhobe­nen Forderun­gen der Neuen Linken dien­ten fak­tisch immer dem Ziel, die beste­hende Gesellschaft­sor­d­nung gän­zlich in Frage zu stellen und durch eine andere zu erset­zen.
Wenn auch nicht ohne den Rekurs auf die Gesellschaft auszukom­men ist, bleibt doch der begrün­dete Vor­be­halt gegenüber ein­er amor­phen Größe jen­seits des Staates und sein­er insti­tu­tionellen Ver­faßtheit, die im Grunde beliebi­gen Zielset­zun­gen als Legit­i­ma­tion dienen kann. Zu den wichtig­sten Ele­menten aller kon­ser­v­a­tiv­en Gesellschaft­skri­tik gehört deshalb, daß sich die Gesellschaft den Forderun­gen des Staates beziehungsweise der Gemein­schaft (Volk, Reich) unterzuord­nen habe und weit­er, daß die Vorstel­lung ein­er beliebi­gen “Kon­stru­ier­barkeit” in die Irre führen muß.
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Zitate:
Das Soziale ist ganz ohne Abstriche die Domäne des Fürsten dieser Welt — Die Falle aller Fall­en ist unver­mei­dlich die Falle des Sozialen. Über­all, immer, in allen Din­gen ist das Gefühl des Sozialen eine vol­len­dete Nachah­mung des Glaubens, die rest­los trügerisch ist. Diese Nachah­mung hat den großen Vorteil, fast alle Bezirke der Seele zufrieden­zustellen — Unter den gegen­wär­ti­gen Ver­hält­nis­sen ist die Ablehnung des Sozialen für den Glauben vielle­icht eine Frage von Leben oder Tod.
Simone Weil
 
In der Tat wird die gesamte Diskus­sion vom Ter­mi­nus der Gesellschaft bes­timmt, über die man noch unver­fänglich reden kann, denn “die Gesellschaft” verpflichtet zu nichts. Gesellschaft ist kein per­so­n­en­rechtlich­es Band, son­dern die Summe der Per­so­n­en, die unter ein­er Staat­sor­gan­i­sa­tion auf einem ganz bes­timmten Gebi­et leben: ob miteinan­der oder nebeneinan­der, das spielt für den Begriff Gesellschaft keine Rolle. Was die Men­schen zu einem Haf­tungsver­band, zu ein­er Gefahren- und Schick­sals­ge­mein­schaft in guten und in schlecht­en Zeit­en zusam­men­fügt, das ist eben das Volk im Sinne der Nation, das die Basis der Demokratie bildet.
 
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Lit­er­atur:
  • Wern­er Conze: Nation und Gesellschaft. Zwei Grund­be­griffe der rev­o­lu­tionären Epoche, in: His­torische Zeitschrift 198 (1964), S. 1–16
  • Ernst Forsthoff (Hrsg.): Lorenz von Stein. Gesellschaft, Staat, Recht, Frank­furt a.M. 1972
  • Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft [1922], 2 Bde, zulet­zt Berlin 2009