Kesting, Hanno, Soziologe, 1925–1975

Kest­ing, am 12. Dezem­ber 1925 in Buer-Erle bei Gelsenkirchen geboren, erlebte die bei­den let­zten Kriegs­jahre als Sol­dat; an den Fol­gen ein­er Ver­wun­dung litt er lebenslang. Nach der Ent­las­sung aus vier­jähriger britis­ch­er Kriegs­ge­fan­gen­schaft nahm er ein Studi­um der Sozi­olo­gie, Philoso­phie und Geschichte – der „Ori­en­tierungswis­senschaften“ — in Hei­del­berg auf und gehörte zum Umfeld des Sozi­olo­gen Alfred Weber. Mit Rein­hart Kosel­leck und Nico­laus Som­bart bildete er die Basis­man­nschaft des „Archivs für Raum­pla­nung und Welt­bürg­erkrieg“, dessen Konzep­tion allerd­ings wesentlich stärk­er von Carl Schmitt als von Weber bee­in­flußt war.

Unter den dreien hat Kest­ing sich der Lehre Schmitts, des „geheime[n] Principe im unsicht­baren Reich deutsch­er Geistigkeit“, am weitesten geöffnet, was schon an sein­er (nicht pub­lizierten) Dis­ser­ta­tion über „Utopie und Escha­tolo­gie“ und dann vor allem an seinem magis­tralen Werk Geschicht­sphiloso­phie und Welt­bürg­erkrieg (1959) ables­bar wurde. Darin ver­trat Kest­ing die These, daß seit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion eine glob­ale Auseinan­der­set­zung zwis­chen ide­ol­o­gis­chen Lagern geführt werde, jew­eils bewaffnet mit ein­er Geschichts- als Bürg­erkriegsphiloso­phie, wobei die feindlichen Brüder der linken Partei — kap­i­tal­is­tis­che Demokratie und Sow­jet­sys­tem — über die rechte Partei — zulet­zt in Gestalt von Faschis­mus und Nation­al­sozial­is­mus — gesiegt hat­ten und sich nun nach ihrem Tri­umph unver­söhn­lich gegenüber standen.

Die tief pes­simistis­che Welt­sicht dieses Buch­es hat Kest­ing nicht gehin­dert, mit einem gewis­sen Geschick seine beru­fliche Lauf­bahn zu ver­fol­gen. Nach einiger Zeit an der Sozial­forschungsstelle der Uni­ver­sität Mün­ster, wo er mit empirischen Unter­suchun­gen befaßt war, wurde er 1957 Dozent für Sozi­olo­gie an der Hochschule für Gestal­tung in Ulm und nahm erhe­blichen Ein­fluß auf deren wis­senschaftliche Aus­rich­tung, gab diese Stelle dann wieder auf und leit­ete 1959 kurzzeit­ig das Kul­tur­res­sort der Frank­furter Rund­schau. 1962 kam Kest­ing als Assis­tent Arnold Gehlens nach Spey­er. Dort habil­i­tierte er sich mit ein­er Arbeit über Öffentlichkeit und Pro­pa­gan­da (die erst posthum veröf­fentlicht wurde).

Gegen die außeror­dentlich ein­flußre­iche These von Jür­gen Haber­mas über das Wesen „kri­tis­ch­er Öffentlichkeit“ entwick­elt Kest­ing die Auf­fas­sung, daß so etwas wie eine „öffentliche Mei­n­ung“ im stren­gen Sinn niemals existiert habe, nicht existiere und auch zukün­ftig nicht existieren werde. Wer behaupte, im Namen der Öffentlichkeit zu sprechen – ganz gle­ich, ob er an der Macht sei oder in der Oppo­si­tion ste­he – tue das immer in manip­u­la­tiv­er Absicht. Es han­dele sich nur um ein Mit­tel, dessen sich die konkur­ri­eren­den Eliten bedi­en­ten, um ihre Ansprüche zu legit­imieren.

1968 erhielt Ker­st­ing einen Ruf an die Uni­ver­sität Bochum als Ordi­nar­ius für Sozi­olo­gie. Allerd­ings wurde er des neuen Amtes nicht froh. Kest­ing war nach den Worten sein­er Schwest­er Mar­i­anne „kein ein­fach­er Charak­ter“, hat­te seinen Oppo­si­tion­s­geist früh und in jede Rich­tung erprobt; ange­blich soll er sog­ar den Rauswurf aus der Hitler-Jugend provoziert haben. Hat­te er sich bis dahin poli­tisch noch eine gewisse Zurück­hal­tung aufer­legt – zwis­chen­zeitlich war er sog­ar Stadtverord­neter für die FDP gewe­sen –, so ließ er angesichts der Stu­den­ten­re­volte jede Zurück­hal­tung fahren.

Kest­ing wandte sich mit großer Schärfe gegen die stu­den­tis­che Linke wie gegen den Oppor­tunis­mus sein­er Kol­le­gen und isolierte sich im Lehrkör­p­er voll­ständig. Wie skep­tisch er mit­tler­weile die Über­lebens­fähigkeit der Bun­desre­pub­lik ansah, war dem Beitrag zu ent­nehmen, den er 1974 in der Festschrift zum 70. Geburt­stag seines Lehrers Gehlen veröf­fentlichte. Es han­delte sich auch um ein Plä­doy­er für die „Fähigkeit zu sehen. Zu sehen, was vor jed­er­manns Augen liegt, aber, aus welchen Grün­den immer, aus Ver­strick­ung in Tra­di­tio­nen, in Vorurteile, nicht zulet­zt in Ide­olo­gien selb­st und zumal von den Beteiligten überse­hen wird.“ — Ein Jahr später starb Kest­ing, ger­ade fün­fzigjährig, an den Fol­gen ein­er Oper­a­tion.

Kest­ing starb am 18. Mai 1975 in Bochum.

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Zitat:

Die Inter­essen ein­er rel­a­tiv kleinen Schicht stellen sich dar als die Inter­essen der All­ge­mein­heit und Men­schheit selb­st. Nach der Logik von Begriff und Gegen­be­griff hat das die Folge, daß der Geg­n­er dieser Inter­essen zu einem Geg­n­er der All­ge­mein­heit und des Men­schengeschlechts gestem­pelt wird. Auf diese Weise ent­fal­ten human­itäre Begriffe eine außeror­dentliche Kraft der Diskri­m­inierung…

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Schriften:

  • Geschicht­sphiloso­phie und Welt­bürg­erkrieg, Hei­del­berg 1959; Herrschaft und Knechtschaft, Freiburg i. Br. 1973; Öffentlichkeit und Pro­pa­gan­da, Bruch­sal 1995

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Lit­er­atur:

  • Dirk van Laak: Gespräche in der Sicher­heit des Schweigens. Carl Schmitt in der poli­tis­chen Geis­tes­geschichte der frühen Bun­desre­pub­lik, Berlin 1993
  • Nico­laus Som­bart: Ren­dezvous mit dem Welt­geist. Hei­del­berg­er Rem­i­niszen­zen 1945–1951, Frank­furt a. M. 2000