In Stahlgewittern — Ernst Jünger, 1920

Wie viele sein­er Gen­er­a­tion zog Ernst Jünger als 19jähriger begeis­tert in den Krieg: »Aufgewach­sen in einem Zeital­ter der Sicher­heit, fühlten wir alle die Sehn­sucht nach dem Ungewöhn­lichen, nach der großen Gefahr. Da hat­te uns der Krieg gepackt wie ein Rausch.« Jünger war ein schlechter Schüler, der froh war, auf diesem Weg der Schule zu entkom­men. Das hat­te er bere­its ein Jahr zuvor mit dem Ein­tritt in die Frem­den­le­gion erfol­g­los ver­sucht. Bei Kriegsaus­bruch meldet er sich frei­willig und wird nach dem Notabitur einge­zo­gen. Jünger macht den Krieg fast vom ersten bis zum let­zten Tag mit, wird mehrfach schw­erver­wun­det und erhält als ein­er der ganz weni­gen Führer ein­er Infan­teriekom­panie den Pour le Mérite, die höch­ste Tapfer­keit­sausze­ich­nung, die nur 687mal ver­liehen wurde. Jünger führt von Beginn an Tage­buch und ist so zugle­ich Teil­nehmer und Beobachter des Krieges. Das schlägt sich in den Stahlge­wit­tern, die er gle­ich nach dem Krieg anhand sein­er Tage­büch­er ver­faßt, nieder. Das Buch berichtet chro­nol­o­gisch von der Mel­dung als Kriegs­frei­williger, über die erste Fron­ter­fahrung im Jan­u­ar 1915 und seine Beförderung zum Leut­nant bis zur Bewährung als Spähtruppführer und den glück­lichen Aus­gang im Lazarett, wo ihn im Sep­tem­ber 1918 die Nachricht von der Ver­lei­hung des Pour le Mérite erre­icht. Im Juli 1917 kann Jünger seinem Brud­er Friedrich Georg auf dem Schlacht­feld von Lange­mar­ck das Leben ret­ten.

In nüchtern­er Dik­tion beschreibt Jünger den Krieg an der West­front als ein ele­mentares Ereig­nis, das auch in Zeit­en der tech­nis­chen Hil­f­s­mit­tel kaum etwas von sein­er Unmit­tel­barkeit ver­loren hat. Zumin­d­est dann nicht, wenn man die Per­spek­tive des Grabenkämpfers zugrunde legt. Jünger fragt nicht, ob der Krieg gut oder böse und wie er moralisch zu bew­erten sei. Er stellt ihn als eigentliche Tragödie, als zum Men­schen zuge­hörig dar – etwas, das man bedauern aber nicht zu ändern ver­mag. Schon der Titel des Buch­es legt nahe, worum es Jünger geht: um ein plöt­zlich­es, here­in­brechen­des Ereig­nis, das der Men­sch nicht abwen­den kann. Deshalb find­en sich im weit­eren Ver­lauf des Buch­es auch wed­er Anklänge an die unge­broch­ene Kriegs­begeis­terung von 1914 noch an die fol­gende Niedergeschla­gen­heit von 1918. Der Krieg wirkt unmit­tel­bar, erfährt unvorherse­hbare Wen­dun­gen, ist im Detail völ­lig sinn­los und undurch­sichtig. Immer wieder taucht die Frage auf: Wo ist der Feind? Wo sind die eige­nen Lin­ien? Das Geschehen bleibt chao­tisch, und der Sinn kann nur im Erleb­nis, der Erfahrung des Krieges selb­st liegen. Der Ablauf ist anhand der wech­sel­nden Ort­sna­men beim ersten Lesen kaum nachvol­lziehbar. Wie der Grabenkämpfer ver­liert der Leser irgend­wann den Überblick über den Kriegsver­lauf im ganzen. Es wirkt wie eine »ewige Wiederkehr des Gle­ichen«, die erst auf der über­ge­ord­neten Ebene der Stab­sof­fiziere einen Zusam­men­hang ergibt: »Für ihn war das Ganze ein Plan, für uns eine mit Lei­den­schaft erlebte Wirk­lichkeit.«

In Stahlge­wit­tern hat sich als die beste Darstel­lung des Ersten Weltkrieges aus der Erleb­nis­per­spek­tive erwiesen. Jen­seits von Dolch­stoßle­gende und Antikriegsmetaphorik kon­nte Jüngers Buch bere­its in den zwanziger Jahren eine parteiüber­greifende Gültigkeit beanspruchen. Es ist vor allem die nüchterne Dik­tion, die Ide­olo­gen jed­er Rich­tung auf die Bar­rikaden treibt. Doch genau darin liegt die bleibende Gültigkeit dieses Buch­es, die es zu dem Kriegs­buch über­haupt macht. Es ist nicht nur eines der ersten Kriegstage­büch­er, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erschienen, es ist auch eines der erfol­gre­ich­sten. Allein bis 1960 wur­den 250 000 Exem­plare verkauft, aktuell liegt die 47. Auflage vor, es gibt Über­set­zun­gen in alle Kul­tur­sprachen. Im Laufe seines lan­gen Lebens hat Jünger das Buch sechs­mal über­ar­beit­et und verän­dert, ohne es dem jew­eili­gen Zeit­geist anzu­passen. Jünger begrün­dete mit In Stahlge­wit­tern seinen anhal­tenden Ruhm als Schrift­steller, dessen Werk mit­tler­weile zur Weltlit­er­atur gehört, was nicht zulet­zt seine Auf­nahme in die renom­mierte Bib­lio­théque de la Pléi­ade (2008) belegt.

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Zitat:

Von Kleinigkeit­en abge­se­hen, hat­te ich im ganzen min­destens vierzehn Tre­f­fer aufge­fan­gen, näm­lich fünf Gewehrgeschosse, zwei Granat­split­ter, eine Schrap­nel­lkugel, vier Hand­granat­en- und zwei Gewehrgeschoßs­plit­ter, die mit ein- und Auss­chüssen ger­ade zwanzig Nar­ben zurück­ließen. In diesem Kriege, in dem bere­its mehr Räume als einzelne Men­schen unter Feuer genom­men wur­den, hat­te ich es immer­hin erre­icht, daß elf von diesen Geschossen auf mich per­sön­lich gezielt waren.

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Aus­gabe:

  • Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Tage­büch­er, Bd. 1, Tage­büch­er I, Stuttgart: Klett-Cot­ta 1978, S. 9–300

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Lit­er­atur:

  • Nils Fabi­ans­son: Das Begleit­buch zu Ernst Jünger In Stahlge­wit­tern, Hamburg/Berlin/Bonn 2007
  • Ernst Jünger: Kriegstage­buch 1914–1918, hrsg. v. Hel­muth Kiesel, Stuttgart 2010