Ritter, Joachim — Philosoph, 1903–1974

Joachim Rit­ter, geboren am am 3. April 1903 in Geesthacht bei Ham­burg, studierte Philoso­phie, The­olo­gie, Geschichte, Ger­man­is­tik in Hei­del­berg, Mar­burg, Freiburg/Br. u.a. bei Ernst Rothack­er, Heinz Heim­soeth und Mar­tin Hei­deg­ger. 1925 wurde er von Ernst Cas­sir­er in Ham­burg mit ein­er Arbeit über die Doc­ta igno­ran­tia bei Nico­laus Cusanus pro­moviert, die Habil­i­ta­tion fol­gte 1932 mit ein­er Studie über den Mundus intel­li­gi­bilis. Unter­suchung zur Auf­nahme und Umwand­lung der neu­pla­tonis­chen Ontolo­gie bei Augusti­nus.

Rit­ter neigte in seinen frühen Jahren dem Marx­is­mus zu, 1933 war der junge Dozent Mitun­terze­ich­n­er eines Beken­nt­niss­es der Pro­fes­soren zu Hitler und dem NS-Staat. Er war seit 1937 NSDAP-Mit­glied, zudem Mit­glied der NS-Stu­den­tenkampfhil­fe und des NS-Lehrerbun­des, seit 1940 Reserve­of­fizier und seit 1941 diente er an der Ost­front. 1943 wurde er zum Extra­or­di­nar­ius in Kiel ernan­nt, kon­nte aber auf­grund des Mil­itär­di­en­stes die Stelle nicht antreten.

Von 1946 bis zur Emer­i­tierung 1968 lehrte Rit­ter als Ordi­nar­ius an der West­fälis­chen Wil­helms-Uni­ver­sität in Mün­ster, unter­brochen von ein­er Gast­pro­fes­sur in Istan­bul (1953–55). Rit­ters Wirkung in Anbe­tra­cht eines schmalen, aber gehaltvollen Oeu­vres ver­dankt sich ein­er­seits seinem über­ra­gen­den hochschulpoli­tis­chen Engage­ment, andr­er­seits aber einem ungewöhn­lich pro­duk­tiv­en, über die Fachdiszi­plin hin­aus­re­ichen­den Schülerkreis, dem so unter­schiedliche Tem­pera­mente und Per­sön­lichkeit­en wie Her­mann Lübbe, Odo Mar­quard, Gün­ter Rohrmoser, zeitweise Ernst Tugend­hat, Robert Spae­mann und Ernst-Wolf­gang Böck­en­förde ange­hörten. Ihnen muss der Lehrer mit hohem intellek­tuellem Anspruch, zugle­ich aber mit ein­er zurückgenomme­nen, immer anre­gen­den Tol­er­anz begeg­net sein, so daß sich die Jün­geren früh als eigen­ständi­ge Part­ner ver­ste­hen kon­nten. Nicht zulet­zt daraus dürfte die Vir­u­lenz des Rit­ter-Kreis­es rühren, dessen Obersem­inare, das „Col­legium Philo­soph­icum“, ein Forum ger­adezu leg­endär­er Debat­ten­frei­heit bilde­ten, mit Durch­läs­sigkeit­en auf die „Gespräche in der Sicher­heit des Schweigens“ im Umkreis von Carl Schmitt

Beson­dere Beach­tung fand seine schmale in zahlre­iche Sprachen über­set­zte Unter­suchung über Hegel und die franzö­sis­che Rev­o­lu­tion (zuerst 1957). Die Studie hat ein dop­peltes Ver­di­enst: sie resti­tu­iert den Hegel der Recht­sphiloso­phie wieder als Denker der Frei­heit, der aber über deren nur for­male Bedeu­tung hin­aus­ge­ht. Hierin grün­det der Kom­pen­sa­tions­be­griff, der, u.a. von Odo Mar­quard im Blick auf die Legit­im­ität der Geis­teswis­senschaften ver­wen­det, ins Zen­trum der Rit­ter­schule gehört. Zum anderen zeigt Rit­ter, daß die Mod­erne ins­ge­samt unter der Sig­natur von „Ent­frem­dung“ und „Entzweiung“ ver­standen wer­den kann. Dabei ist Rit­ter aber nicht zum Nieder­gangs­the­o­retik­er gewor­den. Indus­tri­al­isierung, abstrak­te Recht­suni­ver­sal­ität bedür­fen der Bewahrung der Sub­stanz des Herkom­mens, um nicht ver­spielt, ja in ihr Gegen­teil verkehrt zu wer­den.

Ähn­lich wichtig wie Hegel war für Rit­ter Aris­tote­les. Von ihm her erschloß er die Bedeu­tung der klas­sis­chen Tra­di­tion Prak­tis­ch­er Philoso­phie, die im Span­nungs­feld zwis­chen Ethik und Poli­tik zu ein­er „Hermeneu­tik der geschichtlichen Welt“ zu ver­tiefen ist. Insti­tu­tio­nen sind uner­lässlich, um das abstrak­te Sollen und die Wirk­lichkeit des Welt­laufs zueinan­der in Beziehung zu set­zen. Die „Reha­bil­i­tierung der prak­tis­chen Philoso­phie“ (Man­fred Riedel, Wil­helm Hen­nis) aber auch der Neoaris­totelis­mus der angel­säch­sis­chen Philoso­phie (Alas­dair Mac­In­tyre) ver­danken Rit­ter wesentliche Anre­gun­gen.

Sein let­ztes großes Pro­jekt war das His­torische Wörter­buch der Philoso­phie, das Rit­ter seit den 60er Jahren, zunächst in der Absicht ein­er Koop­er­a­tion mit Gadamer, dann eigen­ständig auf den Weg brachte. Das Wörter­buch sucht philosophis­che Grund­be­griffe in ihrem Wan­del und zugle­ich in ihrem top­is­chen Zusam­men­hang sicht­bar zu machen, aus­ge­hend von einem Konzept, wonach sich Philoso­phie, obgle­ich sie in ver­schiedene Rich­tun­gen und Schulen zer­fällt, sich peren­nierend als ein großes Gespräch ent­fal­tet. Nicht min­der wichtig – und auch für zahlre­iche Rit­ter-Schüler kennze­ich­nend – ist es, daß ver­gan­ge­nes Denken wie ein Oku­lar ver­standen wird, um die Prob­leme der eige­nen Zeit zu erken­nen.

Rit­ter hat damit nicht nur ein­er strik­ten Unter­schei­d­barkeit von Geschichte der Philoso­phie und ihrer Sys­tem­atik wider­sprochen, son­dern auch jen­er zwis­chen geistiger Matrix und his­torisch­er Real­ität.

Joachim Rit­ter ver­starb am 3. August 1974 in Mün­ster.

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Zitat:

Die Geschichtlichkeit der mod­er­nen Gesellschaft beruht darauf, dass sie in der Form der Entzweiung die in der Sub­jek­tiv­ität bewahrte Sub­stanz frei­gibt und damit als den lebendi­gen Inhalt der von ihr geset­zten Frei­heit erhält.

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Schriften:

  • Hegel und die Franzö­sis­che Rev­o­lu­tion, Köln 1957
  • Meta­physik und Poli­tik. Stu­di­en zu Aris­tote­les und Hegel, Frank­furt a.M. 1969 (erw. Neuaus­gabe 2003)
  • Sub­jek­tiv­ität. Sechs Auf­sätze, Frank­furt a.M. 1974
  • Vor­lesun­gen zur Philosophis­chen Ästhetik. Aus dem Nach­laß, Göt­tin­gen 2010

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Lit­er­atur:

  • Col­legium Philo­soph­icum. Joachim Rit­ter zum 60. Geburt­stag, Basel 1965
  • Gedenkschrift Joachim Rit­ter, Mün­ster 1978
  • Joachim Rit­ter zum Gedenken, Stuttgart 2004
  • Gün­ter Rohrmoser: Kon­ser­v­a­tives Denken im Kon­text der Mod­erne. Bietigheim/Baden 2006