Riedel, Manfred — Philosoph, 1936–2009

Riedel, geboren am 10. Mai 1936 in Etzold­shain, studierte zunächst Ger­man­is­tik und Philoso­phie in Leipzig bei F. A. Korff und bei Ernst Bloch.  Schon als Stu­dent geri­et Riedel in der dama­li­gen DDR in poli­tis­che Schwierigkeit­en, weil er dem phrasen­haften Kom­mu­nis­mus des Ulbricht-Regimes vehe­ment wider­sprach. Er ging noch vor dem Mauer­bau in die Bun­desre­pub­lik und führte sein Philoso­phi­es­tudi­um bei Hans-Georg Gadamer und Karl Löwith zu Ende. Obwohl er ursprünglich über Hei­deg­ger hat­te pro­movieren wollen, legte ihm Löwith das The­ma der tat­säch­lich abgeschlosse­nen Dis­ser­ta­tion über The­o­rie und Prax­is im Denken Hegels nahe.

Riedel habil­i­tierte sich 1968 unter der Ägide von Gadamer und Dieter Hen­rich mit ein­er grundle­gen­den Unter­suchung über die bürg­er­liche Gesellschaft, die erst aus dem Nach­lass her­aus­gegeben wurde. Ein­er Assis­ten­ten­zeit bei Wolf­gang Wieland in Mar­burg fol­gten kurze Sta­tio­nen als Pri­vat­dozent in Hei­del­berg und Lehrstuh­lvertreter in Saar­brück­en. 1971 wurde Riedel als Nach­fol­ger von Wil­helm Kam­lah auf einen Lehrstuhl für Prak­tis­che Philoso­phie an die Friedrich Alexan­der-Uni­ver­sität Erlan­gen-Nürn­berg berufen, wo er bis 1994 lehrte. Nach Gast­pro­fes­suren im unmit­tel­baren Zusam­men­hang der Wen­dezeit in Jena  nahm er 1994 den Ruf auf das Ordi­nar­i­at für Prak­tis­che Philoso­phie an der Mar­tin Luther-Uni­ver­sität Halle-Wit­ten­berg an. 2004 wurde er emer­i­tiert, sein Lehrstuhl aufge­lassen.

Riedels Denken kreiste zunächst, in Affinität zur Rit­ter­schule, um das Prob­lem von alteu­ropäis­ch­er Über­liefer­ung und Mod­erne, Tra­di­tion und Rev­o­lu­tion. Dem wid­me­ten sich grundle­gende Stu­di­en zu Aris­tote­les und Hegel, die er aber schon sein­erzeit im Gegen­licht von Hei­deg­gers Rev­o­lu­tion der Philoso­phie deutete. Gegenüber der Sozial­tech­nolo­gie und einem abstrak­ten emanzi­pa­torischen Uni­ver­sal­is­mus lag Riedel (ähn­liche wie Wil­helm Hen­nis oder Hans Maier) an ein­er „Reha­bil­i­tierung der prak­tis­chen Philoso­phie“. Ein ein­schlägiges zweibändi­ges Werk gab er 1972 her­aus.

Stu­di­en über die Geschichte der Geis­teswis­senschaften (Dilthey) und Kants ursprüngliche Fragestel­lung schlossen sich an. In der Folge von Hei­deg­ger und Aris­tote­les entwick­elte Riedel seit den mit­tleren achtziger Jahren das Pro­fil ein­er speku­la­tiv­en zweit­en Philoso­phie der Zeitlichkeit und des Stand­hal­tens im Endlichen, die er durch die Frei­le­gung der akroama­tis­chen Dimen­sion der Hermeneu­tik (Hören auf die Sprache, 1990) ver­tiefte und fundierte.

Das Ende der DDR begleit­ete er mit seinem „her­metis­chen“ Reise­buch Zeitkehre. Wege in das vergessene Land, in dem er, flankiert durch viel beachtete und noch mehr kri­tisierte Vorträge und Inter­views, an das Ethos des Alten Reich­es anschloß und, mit Kant, Herder und Hegel, die Ver­schränkung von Uni­ver­sal­is­mus und Patri­o­tismus ein­forderte. Riedels aus den klas­sis­chen Tra­di­tio­nen deutschen Geistes stam­mende Hal­tung erfuhr u.a. durch Jür­gen Haber­mas mas­siv polemis­che Kri­tik.

Er selb­st wid­mete sich in den neun­ziger Jahren einge­hen­den Niet­zsche-Stu­di­en, wobei er Niet­zsche aus dessen Nach­barschaft zur Dich­tung und aus sein­er geisti­gen Nähe zur Weimar­er Klas­sik ver­ständlich zu machen wusste. Von hier her war es nahe­liegend, daß Riedel in den let­zten Jahren seines Lebens sich dem „geheimen Deutsch­land“ und der For­ma­tion des George-Kreis­es wid­mete; nicht sozi­ol­o­gisch, son­dern im blick auf die Prägekraft der Dich­tung.

Riedel äußerte sich erst im Umkreis der Deutschen Ein­heit expliz­it poli­tisch. Seinem Tem­pera­ment und sein­er Geis­te­sart nach eher eirenisch, wider­sprach er aber auch als Philosoph ein­er bedin­gungslosen „West­ern­iza­tion“, die sich von den Quellen alteu­ropäis­chen Denkens abwen­det und unbe­se­hen den Pri­mat der ana­lytisch angel­säch­sis­chen Philoso­phien anerken­nt. Der Dekadenz der Philoso­phie und der Wiedergewin­nung verbindlich­er Maßstäbe galt sein Nach­denken bis zulet­zt. In der indi­rek­ten Kraft des Gedankens und nicht in unmit­tel­bar­er Aktion wäre er als kon­ser­v­a­tiv zu ver­ste­hen.

Man­fred Riedel ver­starb am 11. Mai 2009 in Raths­berg bei Erlan­gen. 

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Zitat:

Es ist die Tragik des deutschen Wider­stands, daß die West­mächte Unter­stützung auch den­jeni­gen ver­weigerten, die wie die Stauf­fen­bergs im Hitler­regime jene von Churchill erkan­nte, „unge­heuer­liche Tyran­nei“ zu beseit­i­gen gedacht­en, deren beispiel­lose Ver­brechen gegen Völk­er und Men­schen­recht das durch­laufende, denkwürdi­ge Europa-Kapi­tel in den Annalen deutsch­er Geschichte für null und nichtig erk­lärte,- als hätte es nie ein „geheimes europäis­ches Deutsch­land“ gegeben. Daß der Weg nach „West­en“ für die Deutschen lange zuvor begann, ein wahrlich ander­er, als das heutige Aller­weltswort meint, diese Ein­sicht ver­dank­te Claus Stauf­fen­berg dem Dichter und Lehrmeis­ter (Ste­fan George).

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Schriften:

  • Meta­physik und Metapoli­tik. Stu­di­en zu Aris­tote­les und zur poli­tis­chen Sprache der neuzeitlichen Philoso­phie, Frank­furt a.M. 1975
  • Zwis­chen Tra­di­tion und Rev­o­lu­tion. Stu­di­en zu Hegels Recht­sphiloso­phie, Stuttgart 1982
  • Für eine zweite Philoso­phie. Vorträge und Abhand­lun­gen, Frank­furt a.M. 1988
  • Zeitkehre in Deutsch­land. Wege in das vergessene Land, Berlin 1991
  • Tra­di­tion und Utopie. Ernst Blochs Philoso­phie im Licht unser­er geschichtlichen Denker­fahrung Frank­furt a.M. 1994
  • Niet­zsche in Weimar. Ein deutsches Dra­ma, Leipzig 1997
  • Freilichtgedanken. Niet­zsches dich­ter­ische Wel­ter­fahrung, Stuttgart 1998
  • Geheimes Deutsch­land. Ste­fan George und die Brüder Stauf­fen­berg, Köln/Weimar/Wien 2006
  • Bürg­er­liche Gesellschaft. Eine Kat­e­gorie der klas­sis­chen Poli­tik und des mod­er­nen Natur­rechts (aus dem Nach­lass her­aus­gegeben von Har­ald Seu­bert); Stuttgart 2011

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Lit­er­atur:

  • Thomas Grethlein/ Hein­rich Leit­ner (Hrsg.): Inmit­ten der Zeit. Beiträge zur europäis­chen Gegen­wart­sphiloso­phie (FS zum 60. Geburt­stag), Würzburg 1996
  • Har­ald Seu­bert (Hrsg.): Ver­ste­hen in Wort und Schrift. Europäis­che Denkge­spräche für Man­fred Riedel, Köln/Weimar/Wien 2004
  • Har­ald Seu­bert: Akroa­matik und speku­la­tive Hermeneu­tik. Zum Gedenken an Man­fred Riedel (1936–2009), in: Per­spek­tiv­en der Philoso­phie. Neues Jahrbuch 35 (2009)