Riedel, geboren am 10. Mai 1936 in Etzoldshain, studierte zunächst Germanistik und Philosophie in Leipzig bei F. A. Korff und bei Ernst Bloch. Schon als Student geriet Riedel in der damaligen DDR in politische Schwierigkeiten, weil er dem phrasenhaften Kommunismus des Ulbricht-Regimes vehement widersprach. Er ging noch vor dem Mauerbau in die Bundesrepublik und führte sein Philosophiestudium bei Hans-Georg Gadamer und Karl Löwith zu Ende. Obwohl er ursprünglich über Heidegger hatte promovieren wollen, legte ihm Löwith das Thema der tatsächlich abgeschlossenen Dissertation über Theorie und Praxis im Denken Hegels nahe.
Riedel habilitierte sich 1968 unter der Ägide von Gadamer und Dieter Henrich mit einer grundlegenden Untersuchung über die bürgerliche Gesellschaft, die erst aus dem Nachlass herausgegeben wurde. Einer Assistentenzeit bei Wolfgang Wieland in Marburg folgten kurze Stationen als Privatdozent in Heidelberg und Lehrstuhlvertreter in Saarbrücken. 1971 wurde Riedel als Nachfolger von Wilhelm Kamlah auf einen Lehrstuhl für Praktische Philosophie an die Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg berufen, wo er bis 1994 lehrte. Nach Gastprofessuren im unmittelbaren Zusammenhang der Wendezeit in Jena nahm er 1994 den Ruf auf das Ordinariat für Praktische Philosophie an der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg an. 2004 wurde er emeritiert, sein Lehrstuhl aufgelassen.
Riedels Denken kreiste zunächst, in Affinität zur Ritterschule, um das Problem von alteuropäischer Überlieferung und Moderne, Tradition und Revolution. Dem widmeten sich grundlegende Studien zu Aristoteles und Hegel, die er aber schon seinerzeit im Gegenlicht von Heideggers Revolution der Philosophie deutete. Gegenüber der Sozialtechnologie und einem abstrakten emanzipatorischen Universalismus lag Riedel (ähnliche wie Wilhelm Hennis oder Hans Maier) an einer „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“. Ein einschlägiges zweibändiges Werk gab er 1972 heraus.
Studien über die Geschichte der Geisteswissenschaften (Dilthey) und Kants ursprüngliche Fragestellung schlossen sich an. In der Folge von Heidegger und Aristoteles entwickelte Riedel seit den mittleren achtziger Jahren das Profil einer spekulativen zweiten Philosophie der Zeitlichkeit und des Standhaltens im Endlichen, die er durch die Freilegung der akroamatischen Dimension der Hermeneutik (Hören auf die Sprache, 1990) vertiefte und fundierte.
Das Ende der DDR begleitete er mit seinem „hermetischen“ Reisebuch Zeitkehre. Wege in das vergessene Land, in dem er, flankiert durch viel beachtete und noch mehr kritisierte Vorträge und Interviews, an das Ethos des Alten Reiches anschloß und, mit Kant, Herder und Hegel, die Verschränkung von Universalismus und Patriotismus einforderte. Riedels aus den klassischen Traditionen deutschen Geistes stammende Haltung erfuhr u.a. durch Jürgen Habermas massiv polemische Kritik.
Er selbst widmete sich in den neunziger Jahren eingehenden Nietzsche-Studien, wobei er Nietzsche aus dessen Nachbarschaft zur Dichtung und aus seiner geistigen Nähe zur Weimarer Klassik verständlich zu machen wusste. Von hier her war es naheliegend, daß Riedel in den letzten Jahren seines Lebens sich dem „geheimen Deutschland“ und der Formation des George-Kreises widmete; nicht soziologisch, sondern im blick auf die Prägekraft der Dichtung.
Riedel äußerte sich erst im Umkreis der Deutschen Einheit explizit politisch. Seinem Temperament und seiner Geistesart nach eher eirenisch, widersprach er aber auch als Philosoph einer bedingungslosen „Westernization“, die sich von den Quellen alteuropäischen Denkens abwendet und unbesehen den Primat der analytisch angelsächsischen Philosophien anerkennt. Der Dekadenz der Philosophie und der Wiedergewinnung verbindlicher Maßstäbe galt sein Nachdenken bis zuletzt. In der indirekten Kraft des Gedankens und nicht in unmittelbarer Aktion wäre er als konservativ zu verstehen.
Manfred Riedel verstarb am 11. Mai 2009 in Rathsberg bei Erlangen.
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Zitat:
Es ist die Tragik des deutschen Widerstands, daß die Westmächte Unterstützung auch denjenigen verweigerten, die wie die Stauffenbergs im Hitlerregime jene von Churchill erkannte, „ungeheuerliche Tyrannei“ zu beseitigen gedachten, deren beispiellose Verbrechen gegen Völker und Menschenrecht das durchlaufende, denkwürdige Europa-Kapitel in den Annalen deutscher Geschichte für null und nichtig erklärte,- als hätte es nie ein „geheimes europäisches Deutschland“ gegeben. Daß der Weg nach „Westen“ für die Deutschen lange zuvor begann, ein wahrlich anderer, als das heutige Allerweltswort meint, diese Einsicht verdankte Claus Stauffenberg dem Dichter und Lehrmeister (Stefan George).
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Schriften:
- Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie, Frankfurt a.M. 1975
- Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1982
- Für eine zweite Philosophie. Vorträge und Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1988
- Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land, Berlin 1991
- Tradition und Utopie. Ernst Blochs Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denkerfahrung Frankfurt a.M. 1994
- Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, Leipzig 1997
- Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998
- Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln/Weimar/Wien 2006
- Bürgerliche Gesellschaft. Eine Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts (aus dem Nachlass herausgegeben von Harald Seubert); Stuttgart 2011
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Literatur:
- Thomas Grethlein/ Heinrich Leitner (Hrsg.): Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie (FS zum 60. Geburtstag), Würzburg 1996
- Harald Seubert (Hrsg.): Verstehen in Wort und Schrift. Europäische Denkgespräche für Manfred Riedel, Köln/Weimar/Wien 2004
- Harald Seubert: Akroamatik und spekulative Hermeneutik. Zum Gedenken an Manfred Riedel (1936–2009), in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 35 (2009)