Masse

Masse ist eine größere Zahl von Men­schen ohne fes­ten sozialen Ver­band, die aber fall­weise ein Ganzes bilden und dadurch zum poli­tis­chen Fak­tor wer­den. Masse trat­en sich­er schon in der Frühgeschichte auf, jeden­falls soweit zen­trale Kult­plätze, Großsied­lun­gen oder erste Städte gebildet waren, die eine Zusam­men­bal­lung von Men­schen­men­gen ermöglicht­en; hinzu kam später eine mit der antiken Land­flucht ein­herge­hende Auflö­sung von älteren Bindun­gen, die der Entste­hung der Masse förder­lich war.

Die Prob­lematik des Prozess­es hat man früh erkan­nt, vor allem was die Anfäl­ligkeit der Masse für Dem­a­gogie und irra­tionales Ver­hal­ten bet­rifft; in diesen Zusam­men­hang gehört auch eine Kri­tik der Demokratie als “Ochlokratie”, das heißt Herrschaft der Masse.

Das erste Auftreten der Masse kann indes nicht darüber hin­wegtäuschen, daß Masse im eigentlichen Sinn erst mit der Indus­tri­al­isierung zu ihrer his­torischen Bedeu­tung kamen. Bed­ingt durch Bevölkerungswach­s­tum und Urban­isierung, den Zer­fall von Tra­di­tion und älteren Loy­al­itäten, den Auf­stieg der Tech­nik und die damit gegebe­nen Verkehrsmöglichkeit­en bilde­ten sich damals in Europa und dann vor allem in Nor­dameri­ka die Anfänge ein­er Mas­sen­ge­sellschaft.

Deren poten­tielle Gefährlichkeit hat­te sich zum ersten Mal in der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion deut­lich gezeigt, als nicht nur die Ver­führbarkeit der Masse, son­dern auch ihre Ten­denz zur Gewalt­tätigkeit her­vor­trat. Während die Linke darauf ihre Hoff­nung set­zte und glaubte, die Selb­st­tätigkeit und Selb­stor­gan­i­sa­tion der Masse werde nicht nur den großen Umsturz her­beiführen, son­dern über­haupt den Fortschritt antreiben, sah die Rechte die Entwick­lung mit erhe­blich­er Besorg­nis. Glaubte man anfangs noch, es lasse sich der Gesamt­prozeß eindäm­men oder vielle­icht sog­ar rück­gängig machen (Restau­ra­tion), sah man sich nach einiger Zeit zu der Ein­sicht gezwun­gen, daß die “Ver­mas­sung” im Grunde nicht zu kor­rigieren war.

In der Kon­se­quenz ent­standen ver­stärkt the­o­retis­che Bemühun­gen zur Inter­pre­ta­tion der Mas­sen­ge­sellschaft, die vor allem zur Aus­bil­dung ein­er “Massenpsy­cholo­gie” und zur Konzep­tion ein­er “Massen­poli­tik” führten. Während die Massenpsy­cholo­gie auf die Ambivalenz des Phänomens abhob — die Masse ist ein­er­seits düm­mer als der einzelne und unberechen­bar, ander­er­seits hero­is­ch­er als das Indi­vidu­um -, suchte die Massen­poli­tik nach prak­tis­chen Möglichkeit­en zur Beherrschung der großen Menge. Dabei spielte das bona­partis­tis­che Mod­ell eine wichtige Rolle, aber auch die Erwä­gun­gen zur Erziehung und Inte­gra­tion der Masse in einen tech­nis­chen Staat (Tech­nokratie), der ihrer Unkalkulier­barkeit durch den Aufweis von Sachzwän­gen Gren­zen ziehen würde.

Ein let­zter Erfolg war diesen Bemühun­gen nicht beschieden, was vor allem an der Unter­stützung für die total­itären Bewe­gun­gen durch die Masse deut­lich wurde, und die Entwick­lung nach 1945 hat mit dem Auftreten der “ein­samen Masse” (David Ries­man) zu einem in dieser Form bis dato unbekan­nten Prob­lem­stau geführt, den man pro­vi­sorisch durch Ablenkung und den Auf­bau des Wohlfahrtsstaates zu beherrschen sucht.

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Zitate:
Es hängt alles von der Art des Ein­flusses ab, unter dem die Masse ste­ht.
Gus­tave Le Bon
 
“Masse an sich” hat es immer gegeben und wird es stets geben, wo irgend eine größere Zahl durch irgen­deinen Anlaß vorüberge­hend ange­zo­gen wird. Jene organ­isierten Massen hinge­gen, die sich von bloßen Massen­men­gen eben darin unter­schei­den, daß sie einen bes­timmt-gerichteten kollek­tiv­en Willen und eine ihm entsprechende Ide­olo­gie her­aus­bilden, — gehen doch erst her­vor eben aus einem sozi­ol­o­gis­chen Mißver­hält­nis zwis­chen Gemein­schaft und Gesellschaft.
Heinz Marr
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Lit­er­atur:
  • John Carey: Haß auf die Massen. Intellek­tuelle 1880–1939, Göt­tin­gen 1993
  • Con­stan­tin Frantz: Louis Napoleon — Masse oder Volk [1852], zulet­zt Wien und Leipzig 1990
  • Gus­tave Le Bon: Psy­cholo­gie der Massen [1895/1908], zulet­zt Stuttgart 1982
  • Heinz Marr: Die Massen­welt im Kampf um ihre Form, Ham­burg 1934
  • David Ries­man: Die ein­same Masse [1956], zulet­zt Ham­burg 1982
  • Sezes­sion 5 (2008) 24 — The­men­heft “Masse”.