Menschenbild

Men­schen­bild beze­ich­net in etwa, was man Anthro­polo­gie in prak­tis­ch­er Absicht nen­nen kön­nte, also ein Konzept des Men­schen, das auf indi­vidu­eller und kollek­tiv­er Erfahrung ein­er­seits, gewis­sen the­o­retis­chen Annah­men ander­er­seits beruht. Im Prinzip ist es für nie­man­den möglich, ohne Men­schen­bild auszukom­men, das Reflex­ion­sniveau mag so niedrig sein wie es will.

Für den poli­tis­chen Zusam­men­hang spielt das Men­schen­bild deshalb eine so wichtige Rolle, weil aus Annah­men über das Wesen des Men­schen zwin­gend poli­tis­che Schlüsse zu ziehen sind. Das erk­lärt auch, warum zu den plau­si­bel­sten Unter­schei­dun­gen zwis­chen der Linken und Recht­en gehört, daß man der ersten ein opti­mistis­ches Men­schen­bild, der zweit­en ein pes­simistis­ches zuord­net. Die Linke kommt zu ihren wohlwol­len­den Annah­men, weil sie davon aus­ge­ht, daß der Men­sch bei sein­er Geburt ein »weißes Blatt« ist, das durch entsprechende Erziehung und Sozial­isierung in jede moralisch wün­schbare Form gebracht wer­den kann, die Rechte neigt zur Skep­sis, weil sie beim Men­schen eine unwan­del­bare und prob­lema­tis­che Natur voraus­set­zt. Die Linke neigt deshalb zu Psy­cholo­gie und Gesellschaftswis­senschaften, Egal­i­taris­mus und dauer­hafter Indok­tri­na­tion, die Rechte zu Biolo­gie und Geschichte, Hier­ar­chie und insti­tu­tioneller Ein­bindung.

Hat die Rechte ihre Auf­fas­sung tra­di­tionell durch den Hin­weis auf die Reli­gion begrün­det, ins­beson­dere die Sünd­haftigkeit des Men­schen und die göt­tliche Stiftung des Staates, glaubte die Linke unter dem Ein­fluß von Ratio­nal­is­mus und Aufk­lärung nicht nur an die Per­fek­tibil­ität der Welt, son­dern auch an die voll­ständi­ge Human­isierung des Men­schen. Obwohl sich wed­er die eine noch die andere Erwartung erfüllte, wuchs der Ein­fluß des linken Men­schen­bildes seit der zweit­en Hälfte des 20. Jahrhun­derts immer weit­er an. Und das, obwohl wed­er die philosophisch begrün­dete Annahme ein­er men­schlichen »Son­der­stel­lung« (Max Schel­er) noch die Ergeb­nisse der Natur­wis­senschaften Anhalt­spunk­te für eine prinzip­ielle Gle­ich­heit oder Güte des Men­schen liefer­ten.

Im Gegen­teil müßte man aus den Forschun­gen, ins­beson­dere der Genetik und Etholo­gie, fol­gern, daß die Men­schen als einzelne wie als Grup­pen ungle­ich sind, was ihre intellek­tuellen und kör­per­lichen Fähigkeit­en bet­rifft, daß sich diese Ungle­ich­heit­en nur bed­ingt kor­rigieren lassen oder die Kor­rek­tur erhe­bliche neg­a­tive Begleit­er­schei­n­un­gen hat, daß das Ver­hal­ten in vie­len Fällen Dis­po­si­tio­nen unter­liegt, auf die wir keinen Ein­fluß haben, und Ver­suche, Ver­hal­tensän­derun­gen zu erzwin­gen, regelmäßig in ihr Gegen­teil umschla­gen.

Da sich diese Tat­sachen nicht im Ernst bestre­it­en lassen, hat die Linke den aktiv­en Kampf um das Men­schen­bild vor län­gerem abge­brochen und ver­sucht, ein »Anthro­polo­gie­ver­bot« (Odo Mar­quard) zu instal­lieren, das jede Bezug­nahme auf die Natur des Men­schen als »ras­sis­tisch«, »inhu­man«, »poli­tisch nicht kor­rekt« etc. abqual­i­fiziert.

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Zitate:

Die Zoolo­gie zeigt uns, daß der Men­sch Reißzähne besitzt; hüten wir uns, seine wilden Raubtierin­stink­te zu weck­en. Die Psy­cholo­gie zeigt uns, daß die Ver­nun­ft beim Men­schen durch Wörter und Bilder gestützt wird; hüten wir uns, in ihm den Nar­ren und Phan­tas­ten wachzu­rufen. Die Geschichte zeigt uns, daß die Staat­en, die Reli­gio­nen, die Kirchen, alle großen Insti­tu­tio­nen, die einzi­gen Mit­tel sind, durch welche der tierische und wilde Men­sch sein geringes Teil Ver­nun­ft und Gerechtigkeit erwirbt …

Hip­poly­te Taine

Das Etikett Human­is­mus erin­nert – in falsch­er Harm­losigkeit – an die fortwährende Schlacht um den Men­schen, die sich als Rin­gen zwis­chen bes­tial­isieren­den und zäh­menden Ten­den­zen vol­lzieht.
Peter Slo­ter­dijk

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Lit­er­atur:

  • Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biolo­gie des men­schlichen Ver­hal­tens [1984], zulet­zt Vierkirchen-Pasen­bach 2004
  • Arnold Gehlen: Der Men­sch [1940], zulet­zt Wies­baden 2004
  • Max Schel­er: Die Stel­lung des Men­schen im Kos­mos [1928], zulet­zt Bonn 2005
  • Peter Slo­ter­dijk: Regeln für den Men­schen­park, Frank­furt a. M. 1999
  • Dieter E. Zim­mer: Unsere erste Natur, zulet­zt Frank­furt a. M. 1982