Der Pu­bli­zist Mi­cha­el Wies­berg hat für das The­men­heft “Geo­po­li­tik” un­se­rer In­sti­tuts­zeit­schrift Se­zes­si­on eine Ana­ly­se über die Vor­ge­schich­te des Ukrai­ne­krieg ver­faßt und da­bei die Rol­le der USA her­aus­ge­ar­bei­tet. Die Nach­er­zählng der Vor­ge­schich­te zeigt: Der Kon­flikt ist drei Jahr­zehn­te alt.

Seit zehn Mo­na­ten herrscht Krieg in der Ukrai­ne, ohne daß sich ein Ende der Kampf­hand­lun­gen ab­zeich­ne­te. Bei­de Kriegs­par­tei­en ha­ben sich in eine Lage ma­nö­vriert, die Ver­hand­lun­gen nicht mehr zuläßt.

Wla­di­mir Pu­tin und sei­ne En­tou­ra­ge glau­ben, daß eine West­bin­dung der Ukrai­ne in Ge­stalt ei­nes Bei­tritts zur NATO Ruß­land exi­sten­ti­ell be­dro­he. Soll die­se Be­dro­hung ent­schärft wer­den, muß die­ser Krieg ge­won­nen werden.

Die west­li­che Füh­rungs­macht USA und de­ren Ver­bün­de­te, dar­un­ter Deutsch­land, ha­ben sich dar­auf fest­ge­legt, daß Ruß­land in die­sem Kon­flikt ent­schei­dend ge­schla­gen wer­den müs­se, und zwar nicht nur auf dem Schlacht­feld, son­dern auch wirt­schaft­lich. Die­sem Zweck die­nen die im­mer neu­en Waf­fen­lie­fe­run­gen und an­de­ren Un­ter­stüt­zungs­lei­stun­gen und das um­fas­sen­de Sank­ti­ons­re­gime, das der We­sten ge­gen Ruß­land in Kraft ge­setzt hat.

US-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Lloyd Au­stin hat Ende April 2022 be­tont, das Ziel des We­stens be­stehe dar­in, Ruß­land bis zu dem Punkt zu schwä­chen, an dem es nicht wie­der in die Ukrai­ne ein­mar­schie­ren kön­ne. Und auch der EU-Au­ßen­be­auf­trag­te Jo­sep Bor­rell leg­te sich auf Twit­ter da­hin­ge­hend fest, daß die­ser Krieg »auf dem Schlacht­feld ge­won­nen« werde.

In eine ähn­li­che Rich­tung äu­ßer­te sich Ende April die da­ma­li­ge eng­li­sche Au­ßen­mi­ni­ste­rin Liz Truss, als sie er­klär­te, daß der Krieg in der Ukrai­ne »un­ser al­ler Krieg« sei,

denn der Sieg der Ukrai­ne ist für uns alle eine stra­te­gi­sche Not­wen­dig­keit. Schwe­re Waf­fen, Pan­zer, Flug­zeu­ge – wir grei­fen tief in un­se­re Waf­fen­ar­se­na­le, fah­ren die Pro­duk­ti­on hoch. Das al­les ist notwendig.

Da moch­te auch Deutsch­lands fe­mi­ni­sti­sche Au­ßen­mi­ni­ste­rin An­na­le­na Baer­bock (Bünd­nis 90 / Die Grü­nen) nicht ab­seits ste­hen und er­klär­te, daß es in die­sem Krieg auch dar­um gehe, Ruß­land über Jahr­zehn­te der­art zu schwä­chen, daß wei­te­re An­griffs­krie­ge zu­neh­mend un­mög­lich er­schei­nen. »Ich will«, so Baer­bock laut Fo­cus, »daß Pu­tin nie wie­der ein [sic!] An­griffs­krieg führt.« Deutsch­land wer­de mit sei­ner Un­ter­stüt­zung der Sank­ti­ons­pa­ke­te dazu bei­tra­gen, Ruß­land der­art zu schä­di­gen, daß »es volks­wirt­schaft­lich jah­re­lang nicht mehr auf die Bei­ne kommt«.

Doch da­mit nicht ge­nug: US-Prä­si­dent Joe Bi­den hat Pu­tins Krieg in der Ukrai­ne An­fang April als »Völ­ker­mord« be­zeich­net, den rus­si­schen Prä­si­den­ten als »Kriegs­ver­bre­cher«, der nach dem Krieg ei­nem »Kriegs­ver­bre­cher­pro­zeß« un­ter­zo­gen wer­den müs­se. Da­mit ist die Tür für eine Bei­le­gung des Kon­flik­tes am Ver­hand­lungs­tisch zu­ge­schla­gen. Denn, so gibt der US-Po­li­to­lo­ge John Me­ars­hei­mer zu be­den­ken: »Wie ver­han­delt man mit ei­nem völ­ker­mor­den­den Staat?«

Me­ars­hei­mer, der die rea­li­sti­sche Schu­le der In­ter­na­tio­na­len Be­zie­hun­gen ver­tritt, ge­hört zu den we­ni­gen Stim­men im öf­fent­li­chen Dis­kurs um den Ukrai­ne­krieg, die es wa­gen, die US-ame­ri­ka­ni­schen In­ter­es­sens­la­gen in die­sem Kon­flikt of­fen und kri­tisch zu the­ma­ti­sie­ren. Der Po­li­to­lo­ge weist den USA und in ih­rem Wind­schat­ten auch ih­ren Ver­bün­de­ten die Haupt­schuld für die Es­ka­la­ti­on in der Ukrai­ne zu. Die USA hätten

eine Po­li­tik ge­gen­über der Ukrai­ne vor­an­ge­trie­ben, die von Pu­tin und an­de­ren rus­si­schen Füh­rern als exi­sten­ti­el­le Be­dro­hung an­ge­se­hen wird«.

Me­ars­hei­mer meint damit

Ame­ri­kas Be­ses­sen­heit, die Ukrai­ne in die NATO auf­zu­neh­men und sie zu ei­nem west­li­chen Boll­werk an Ruß­lands Gren­ze zu machen.

Der Re­gie­rung Bi­den wirft er vor, die­se Be­dro­hung nicht durch Di­plo­ma­tie be­sei­tigt zu ha­ben. Statt des­sen ver­pflich­te­ten sich die Ver­ei­nig­ten Staa­ten im Jahr 2021 er­neut, die Ukrai­ne in die NATO auf­zu­neh­men. Pu­tin habe dar­auf mit dem Ein­marsch reagiert.

Ähn­lich ar­gu­men­tier­te Me­ars­hei­mer be­reits in ei­nem Bei­trag für die Zeit­schrift For­eign Af­fairs im Jah­re 2014 mit Blick auf die Krim­kri­se; auch hier wies er den Ver­ei­nig­ten Staa­ten und ih­ren eu­ro­päi­schen Ver­bün­de­ten »den größ­ten Teil der Ver­ant­wor­tung für die Kri­se« zu. »Die Wur­zel des Pro­blems« sei die NATO-Erweiterung,

das zen­tra­le Ele­ment ei­ner um­fas­sen­de­ren Stra­te­gie, um die Ukrai­ne aus der Um­lauf­bahn Ruß­lands her­aus­zu­ho­len und sie in den We­sten zu integrieren.

Für Pu­tin brach­te der »il­le­ga­le Sturz« des de­mo­kra­tisch ge­wähl­ten und pro­rus­si­schen ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Vik­tor Ja­nu­ko­witsch das Faß zum Über­lau­fen. Er re­agier­te dar­auf mit der Ein­nah­me der Krim, ei­ner Halb­in­sel, von der er befürchtete,

daß sie ei­nen NATO-Ma­ri­ne­stütz­punkt be­her­ber­gen wür­de, und ar­bei­te­te dar­an, die Ukrai­ne zu de­sta­bi­li­sie­ren, bis sie ihre Be­mü­hun­gen, sich dem We­sten anzuschließen,

auf­ge­ben wür­de. Es ver­steht sich von selbst, daß Me­ars­hei­mers The­sen in den USA hef­ti­ge Kri­tik aus­ge­löst ha­ben, ins­be­son­de­re nach­dem er mit die­sen The­sen eine mil­lio­nen­fach ge­teil­te Vi­deo­vor­le­sung an der Uni­ver­si­tät von Chi­ca­go hielt und dem Ma­ga­zin The New Yor­ker ein Te­le­fon­in­ter­view gab. We­nig über­ra­schend wur­de er in den Ruch ge­bracht, mit der rus­si­schen Re­gie­rung zusammenzuarbeiten.

Mitt­ler­wei­le gibt es ne­ben Me­ars­hei­mer in den USA eine wei­te­re re­nom­mier­te Stim­me, die sich kri­tisch mit der Rol­le der USA an der Ent­wick­lung des Ukrai­ne­krie­ges aus­ein­an­der­setzt, näm­lich den US-Öko­no­men ­Jef­frey D. Sachs. Sachs war in den 1990er Jah­ren ei­ner der Wort­füh­rer der so­ge­nann­ten Schock­the­ra­pie, mit der die Zen­tral­ver­wal­tungs­wirt­schaf­ten nach dem Ende des Re­al­so­zia­lis­mus in kür­ze­ster Zeit zu Markt­wirt­schaf­ten um­ge­baut wer­den sollten.

Die da­durch aus­ge­lö­sten wirt­schaft­li­chen Ver­wer­fun­gen ha­ben Sachs, der zu den west­li­chen Be­ra­tern des rus­si­schen Pre­mier­mi­ni­sters Jegor Gai­dar ge­hör­te, schar­fe Kri­tik ein­ge­tra­gen. Sachs be­zeich­net den Krieg in der Ukrai­ne als »Hö­he­punkt ei­nes 30jährigen Pro­jekts der ame­ri­ka­ni­schen neo­kon­ser­va­ti­ven Be­we­gung (Neo­cons)«.

In der Re­gie­rung Bi­den säßen

die­sel­ben Neo­kon­ser­va­ti­ven, die sich für die Krie­ge der USA in Ser­bi­en (1999), Af­gha­ni­stan (2001), Irak (2003), Sy­ri­en (2011) und Li­by­en (2011) stark ge­macht und die den Ein­marsch Ruß­lands in die Ukrai­ne erst provoziert

hät­ten. Der US-Öko­nom ver­weist dar­auf, daß sich die »Neo­cons« für die NATO-Er­wei­te­rung um die Ukrai­ne be­reits ein­ge­setzt hat­ten, noch be­vor dies 2008 un­ter Ge­or­ge W. Bush Ziel der US-Po­li­tik wur­de. Sie be­trach­te­ten die NATO-Mit­glied­schaft der Ukrai­ne »als Schlüs­sel zur re­gio­na­len und glo­ba­len Vor­herr­schaft der USA«. Sei­ne Kri­tik gilt auch der Rol­le von ­Vic­to­ria Nu­land, der Ehe­frau des Neo­con-Fal­ken Ro­bert Ka­gan, die er als »neo­kon­ser­va­ti­ve Agen­tin par ex­cel­lence« bezeichnet.

Nu­land ge­hör­te 2014 in der Ukrai­ne zu den Strip­pen­zie­hern, als die Mai­dan-Un­ru­hen mit dem Sturz des de­mo­kra­tisch ge­wähl­ten Prä­si­den­ten Ja­nu­ko­witsch en­de­ten. ­Auf Ja­nu­ko­witsch folg­te der Nu­land-Fa­vo­rit Ar­se­nij Ja­zen­juk, mit dem die wei­te­re Ent­wick­lung ganz im Sin­ne der US-In­ter­es­sen verlief.

In Deutsch­land wur­de Nu­land vor al­lem durch ein ab­ge­hör­tes Te­le­fo­nat be­kannt, in dem sie die For­mu­lie­rung »Fuck the EU« ge­brauch­te. Daß der Mit­schnitt des Te­le­fo­nats in das In­ter­net ge­lang­te, schrieb die US-Re­gie­rung dem rus­si­schen Ge­heim­dienst zu. Al­ler­dings muß­te selbst die Ta­ges­schau zu­ge­ste­hen, daß die Auf­zeich­nung zei­ge, »wie stark sich die USA in die in­ne­rukrai­ni­schen Ver­hält­nis­se« ein­misch­ten. Nun ist Nu­land als Bi­dens Un­ter­staats­se­kre­tä­rin wie­der im Spiel und lei­tet die US-Po­li­tik hin­sicht­lich des Krie­ges in der Ukraine.

Ihr Mann, Ro­bert Ka­gan, gibt der­weil mit geo­stra­te­gi­schen Grund­satz­ar­ti­keln die Li­ni­en vor, so zum Bei­spiel in der Fach­zeit­schrift For­eign Af­fairs, der wohl wich­tig­sten au­ßen­po­li­ti­schen Pu­bli­ka­ti­on der USA, die im Auf­trag der über­aus ein­fluß­rei­chen Denk­fa­brik Coun­cil on For­eign Re­la­ti­ons (CFR) her­aus­ge­ge­ben wird, der un­ter an­de­rem ehe­ma­li­ge US-Prä­si­den­ten, ‑Au­ßen­mi­ni­ster und ‑Fi­nanz­mi­ni­ster angehören.

In der März / April-Aus­ga­be 2021 von For­eign Af­fairs, kurz nach Amts­an­tritt der Re­gie­rung Bi­den also, for­der­te Ka­gan – un­über­les­bar auch als Ab­rech­nung mit der Ära Trump – die US-Ame­ri­ka­ner in ei­nem Grund­satz­ar­ti­kel dazu auf, daß sie ihre »glo­ba­le Rol­le« ak­zep­tie­ren müß­ten, weil die USA eine »Su­per­macht« sei­en, ob sie es nun woll­ten oder nicht.

­Ka­gan be­klagt, daß sich die Ame­ri­ka­ner nicht als »Haupt­ver­tei­di­ger ei­ner be­stimm­ten Art von Welt­ord­nung« sä­hen und daß sie die­se »›un­ver­zicht­ba­re‹ Rol­le« nie über­nom­men oder »oft schlecht ge­spielt hät­ten«. Das Hin und Her der Ame­ri­ka­ner habe Ver­bün­de­te und Geg­ner »ver­wirrt und in die Irre ge­führt«. Ka­gan er­in­nert dar­an, daß das 20. Jahr­hun­dert »mit den Lei­chen aus­län­di­scher Füh­rer und Re­gie­run­gen über­sät« sei, die die USA »falsch ein­ge­schätzt« hät­ten, »von Deutsch­land (zwei­mal) und Ja­pan über die So­wjet­uni­on und Ser­bi­en bis zum Irak«.

Soll das 21. Jahr­hun­dert nicht nach »dem­sel­ben Mu­ster« ver­lau­fen, »am ge­fähr­lich­sten im Wett­be­werb mit Chi­na«, müß­ten die US-Ame­ri­ka­ner »die Rol­le ak­zep­tie­ren, die das Schick­sal und ihre ei­ge­ne Macht ih­nen auf­er­legt« ha­ben. Dies des­halb, weil »die Al­ter­na­ti­ve zur ame­ri­ka­ni­schen Welt­ord­nung« »eine Welt des Macht­va­ku­ums, des Cha­os, des Kon­flikts und der Fehl­ein­schät­zun­gen« sein werde.

War­um die­sem Bei­trag Ka­gans eine be­son­de­re Be­deu­tung zu­kommt, hat die Schwei­zer In­ter­net­zei­tung In­fo­sper­ber be­ant­wor­tet. Ka­gan steht US-Au­ßen­mi­ni­ster Ant­o­ny Blin­ken nahe. Bei­de zu­sam­men ha­ben An­fang Ja­nu­ar 2019 in der Wa­shing­ton Post ei­nen pro­gram­ma­ti­schen Ar­ti­kel ver­öf­fent­licht, der sich in schar­fen Wor­ten ge­gen Do­nald Trumps »Ame­ri­ca first«-Politik wandte.

Der Prä­si­dent, der nach Trump ins Amt kom­me, wer­de »mit ei­ner zu­neh­mend ge­fähr­li­chen Welt kon­fron­tiert sein, die eher an die 1930er Jah­re er­in­nert als an das Ende der Ge­schich­te«. In die­ser Welt sei­en »Po­pu­li­sten, Na­tio­na­li­sten und Dem­ago­gen auf dem Vor­marsch«, »die im­mer stär­ker und ag­gres­si­ver wer­den«, samt »ei­nem Eu­ropa, das in Spal­tung und Selbst­zwei­feln versinkt«.

Ein wei­te­res Fest­hal­ten an »Ame­ri­ca first« mit sei­ner Mi­schung aus »Na­tio­na­lis­mus, Uni­la­te­ra­lis­mus und Frem­den­feind­lich­keit« wer­de die­se Pro­ble­me nur noch ver­schär­fen. Aber das glei­che gel­te für die Al­ter­na­ti­ve, die von Den­kern quer durch das ideo­lo­gi­sche Spek­trum an­ge­bo­ten wer­de, die rie­ten, sich zu­rück­zu­zie­hen, »ohne die wahr­schein­li­chen Fol­gen zu be­den­ken, wie wir es in den 1930er Jah­ren ge­tan haben«.

Es sind An­sich­ten wie die­se, die den Wi­der­spruch von Jef­frey Sachs her­aus­ge­for­dert ha­ben, näm­lich daß die USA auf­grund ih­rer Über­le­gen­heit in der Lage sei­en, die »Be­din­gun­gen in al­len Re­gio­nen der Welt zu dik­tie­ren«. Die­se Hal­tung sei von »be­mer­kens­wer­ter Hy­bris« und durch »Ge­ring­schät­zung von Be­wei­sen« ge­prägt. Ob­wohl die USA seit den 1950er Jah­ren »in fast je­dem re­gio­na­len Kon­flikt«, in dem sie in­vol­viert wa­ren, »in die Schran­ken ver­wie­sen wor­den« sei­en, hät­ten sie mit Blick auf die Ukrai­ne eine mi­li­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit Ruß­land pro­vo­ziert, in der Über­zeu­gung, daß es durch die Waf­fen der NATO und durch ein wirt­schaft­li­ches Sank­ti­ons­re­gime in die Knie ge­zwun­gen werde.

Die­se Sank­tio­nen ha­ben sich aber ins­be­son­de­re aus eu­ro­päi­scher War­te als zwei­schnei­di­ges Schwert er­wie­sen, wie der mar­xi­stisch in­spi­rier­te Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Mi­cha­el Hud­son in ei­nem In­ter­view er­läu­tert hat. Das er­ste Ziel der USA be­stand dar­in, Ruß­land durch Aus­schluß aus dem Swift-Ban­ken-Clea­ring-Sy­stem zu iso­lie­ren. Ban­ken-Clea­ring meint die Ver­rech­nung ge­gen­sei­ti­ger Geldforderungen.

Mos­kau re­agier­te dar­auf mit dem Über­gang zum Ban­ken-Clea­ring-Sy­stem Chi­nas. Da­durch wur­de die Spal­tung der Welt in »zwei ant­ago­ni­sti­sche Fi­nanz­blöcke«, so Hud­son, »noch wei­ter und schnel­ler vorangetrieben«.

Die zwei­te Tak­tik lief dar­auf hinaus,

rus­si­sche Ka­pi­tal­ein­la­gen bei US-Ban­ken zu be­schlag­nah­men und die­se US-ame­ri­ka­ni­schen so­wie eu­ro­päi­schen Fi­nanz­wert­pa­pie­ren und Fonds zuzuführen.

Mit die­sem be­schlag­nahm­ten Ka­pi­tal sei dann un­ter an­de­rem die Ukrai­ne un­ter­stützt wor­den. Mos­kau re­agier­te dar­auf, in­dem es »US-ame­ri­ka­ni­sche und eu­ro­päi­sche In­ve­sti­tio­nen im ei­ge­nen Land bil­lig auf­kauf­te«. Eine Kon­se­quenz daraus:

Deutsch­land ver­liert den rus­si­schen Markt dau­er­haft, als In­ve­sti­ti­ons­part­ner und als Exportmarkt.

Die drit­te US-Tak­tik zielt dar­auf ab, NATO-Staa­ten am Han­del mit Ruß­land zu hin­dern. Auch die­se Maß­nah­me läuft dar­auf hin­aus, daß der rus­si­sche Markt für eu­ro­päi­sche An­bie­ter und Ex­por­teu­re dau­er­haft ver­lo­ren­geht. Eu­ro­pa wer­de die­sen »weg­ge­bro­che­nen Markt« nicht ein­fach er­set­zen kön­nen, auch nicht durch den US-Markt.

Hud­son schluß­fol­gert dar­aus, daß die US- und NATO-Sank­tio­nen ge­gen Ruß­land »tat­säch­lich auf lan­ge Sicht ge­gen Deutsch­land und Eu­ro­pa ge­rich­tet« sei­en. Das sei das, »was die Eu­ro­pä­er und be­son­ders die Deut­schen end­lich be­grei­fen soll­ten«. Aber schein­bar ver­stün­den sie nicht, daß sie die »haupt­säch­li­chen Op­fer in die­sem US-ge­führ­ten Wirt­schafts­krieg um En­er­gie, Nah­rung und fi­nan­zi­el­le Vor­herr­schaft sind«.

Die­ser Be­fund führt zu der Fra­ge, was ei­gent­lich die geo­stra­te­gi­schen Zie­le der Ver­ei­nig­ten Staa­ten in die­sem Wirt­schafts­krieg sind. Der Pu­bli­zist Hau­ke Ritz hat die Tie­fen­di­men­sio­nen die­ser Zie­le der USA aus­zu­lo­ten ver­sucht. Be­reits 2008 stell­te er die The­se auf, daß die USA 1989 nur ei­nes ih­rer bei­den geo­po­li­ti­schen Zie­le er­reicht und des­halb den Kal­ten Krieg fort­ge­setzt hätten.

Das er­ste Ziel sei der »Sieg des Ka­pi­ta­lis­mus über den So­zia­lis­mus« ge­we­sen. Das zwei­te Ziel hin­ge­gen, näm­lich die Er­rin­gung der »Vor­macht­stel­lung der USA in Eu­ra­si­en«, um »die Welt in eine post-na­tio­na­li­sti­sche Ord­nung un­ter US-ame­ri­ka­ni­scher He­ge­mo­nie zu über­füh­ren«, sei ver­fehlt worden.

Ei­ner der wich­tig­sten Prot­ago­ni­sten der The­se vom »eu­ra­si­schen Schach­brett«, des­sen Be­herr­schung die Vor­aus­set­zung für eine glo­ba­le Vor­macht­stel­lung sei, war die 2017 ver­stor­be­ne »graue Emi­nenz« un­ter den US-Geo­po­li­ti­kern, Zbi­gniew Brze­ziń­ski. Sein Den­ken dreh­te sich vor al­lem dar­um, daß es das er­ste Ziel der US-Au­ßen­po­li­tik sein müs­se, daß kein Staat oder »kei­ne Grup­pe von Staa­ten« die Fä­hig­keit er­lan­gen dür­fe, die USA aus Eu­ra­si­en zu ver­trei­ben oder auch nur de­ren »Schieds­rich­ter­rol­le« in Fra­ge zu stel­len. Das »Em­por­kom­men ei­nes Ri­va­len um die Macht« müs­se ver­ei­telt werden.

Ritz kon­sta­tiert mit Blick auf Brze­ziń­ski eine »un­ver­hoh­le­ne Ar­ro­ganz« ge­gen­über Ruß­land, dem die­ser al­len­falls »die Rol­le ei­ner Ko­lo­nie« bzw. ei­nes »Drit­te Welt«-Landes zu­ord­ne­te. Trotz der »Ei­gen­lo­gik mit ho­her Über­zeu­gungs­kraft«, die Brze­zińskis geo­po­li­ti­sche Ana­ly­sen ent­fal­te­ten, sei­en sie »po­li­tisch ver­hee­rend«. Die Welt im 21. Jahr­hun­dert sei auf­grund ih­rer mul­ti­la­te­ra­len Ver­flech­tung für »geo­po­li­ti­sche Macht­spie­le« à la Brze­ziń­ski zu »klein und zer­brech­lich ge­wor­den«. Die Über­tra­gung der Lo­gik ei­nes Schach­spiels auf Kon­ti­nen­te wer­de die­ser »neu­en Si­tua­ti­on nicht gerecht«.

Heu­te sieht Ritz die USA als Su­per­macht, die »im Ab­stieg be­grif­fen« sei, was an­de­re Län­der wie Ruß­land oder Chi­na auf den Plan ruft, um ihre ei­ge­ne Po­si­ti­on aus­zu­bau­en. Ruß­land sei An­ti­po­de im Welt­sy­stem, in dem die USA nach Ritz be­strebt sei­en, im Zuge der Glo­ba­li­sie­rung »Staat­lich­keit zu­gun­sten über­staat­li­cher Netz­wer­ke« auf­zu­lö­sen. Da­mit ist nicht nur eine Ein­schrän­kung der Sou­ve­rä­ni­tät ver­bun­den, son­dern auch eine »Ein­schrän­kung des Ver­fü­gungs­rechts der Na­tio­nal­staa­ten über ihre Rohstoffe«.

Für Ruß­land, das auf na­tio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät be­harrt, gebe es in die­sem Sy­stem kei­ne »ak­zep­ta­ble Po­si­ti­on«. Ritz’ The­se: Wäre Ruß­land in das be­stehen­de Welt­sy­stem oder gar in die NATO auf­ge­nom­men wor­den, wäre es durch die enor­men Ein­künf­te auf­grund sei­nes Roh­stoff­reich­tums im­mer stär­ker und da­mit für die ame­ri­ka­ni­sche He­ge­mo­ni­al­stel­lung be­droh­lich geworden.

Mit an­de­ren Wor­ten: Eine In­te­gra­ti­on Ruß­lands wäre nur mög­lich ge­we­sen, wenn sich das west­li­che Sy­stem ver­än­dert hät­te und die USA ein selbst­be­wuß­tes Ruß­land zu­ge­las­sen hät­ten. Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten ha­ben sich aber ge­gen eine In­te­gra­ti­on Ruß­lands ent­schie­den und mit Blick auf Mos­kau eine Po­li­tik der wirt­schaft­li­chen Ein­däm­mung in Gang ge­setzt, mit der Ab­sicht, Ruß­land so weit zu schwä­chen, daß es zu ei­nem Re­gi­me­ch­an­ge kommt.

Aus deut­scher Sicht sind die Fol­gen die­ser Po­li­tik dra­ma­tisch, be­ruh­te doch der Er­folg der deut­schen In­du­strie in den letz­ten Jahr­zehn­ten auf preis­gün­sti­gem rus­si­schen Erd­gas und an­de­ren Roh­stof­fen. De­ren Weg­fall, den sich ein im­mer wei­ter zur Kennt­lich­keit ent­wickeln­des Sprach­rohr US-ame­ri­ka­ni­scher In­ter­es­sen­po­li­tik in Deutsch­land, näm­lich Bun­des­au­ßen­mi­ni­ste­rin Baer­bock, »für im­mer« wünscht, wird eine, wie es Ritz be­zeich­net, »schmerz­haf­te Um­struk­tu­rie­rung der deut­schen Wirt­schaft« aus­lö­sen, die Deutsch­land sei­ne bis­he­ri­ge füh­ren­de Po­si­ti­on un­ter den In­du­strie­na­tio­nen ko­sten könnte.

Zu Recht plä­diert des­halb der US-Ex­per­te Jo­sef Braml da­für, daß, wenn die Eu­ro­päi­sche Uni­on »nicht Spiel­ball an­de­rer Mäch­te sein soll«, »al­len vor­an Deutsch­land sei­ne Au­ßen­po­li­tik auch ge­gen­über den USA ent­schei­dend kor­ri­gie­ren« müs­se. Da­für al­ler­dings be­darf es ei­nes po­li­ti­schen Wil­lens, der bei die­ser Re­gie­rung, zum nach­hal­ti­gen Scha­den Deutsch­lands, nicht zu er­ken­nen ist.

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Der vor­lie­gen­de Bei­trag ist im The­men­heft Geo­po­li­tik un­se­rer Zeit­schrift er­schie­nen. Er ist ei­ner von meh­re­ren Bei­trä­gen, die sich mit der Vor­ge­schich­te des Ukrai­ne-Kriegs be­fas­sen. Hier ein­se­hen und be­stel­len.

Der im zwei­ten Teil zi­tier­te Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler Hau­ke Ritz hat so­eben zu­sam­men mit Ul­ri­ke Gue­rot den Es­say End­spiel Eu­ro­pa ver­öf­fent­licht. Auch dar­in geht es um Zu­sam­men­hän­ge und Hin­ter­grün­de, die bis­lang we­nig be­kannt sind. Hier ein­se­hen und be­stel­len.