Nation

Nation wird vom lateinis­chen nasci, das heißt »geboren wer­den«, abgeleit­et. Dementsprechend ver­stand man unter Nation tra­di­tionell eine Herkun­fts­ge­mein­schaft. Im Mit­te­lal­ter deutete sich zum ersten Mal eine poli­tis­che Auf­fas­sung der Nation an, als bei Konzilien oder an Uni­ver­sitäten die Grup­pen nach nationes unter­schieden wur­den. Es kam gele­gentlich zur Annäherung an das mod­erne Ver­ständ­nis von Nation, aber sehr oft war das Ord­nungss­chema ein sehr grobes. Das besagt natür­lich nichts dage­gen, daß es auch im Mit­te­lal­ter (und aus­nahm­sweise in der Antike) etwas wie ein Nation­al­be­wußt­sein gab; die Zahl entsprechen­der Belege ist groß und wider­spricht der ver­bre­it­eten Annahme, daß die Nation ein Pro­dukt der Neuzeit ist.

Zugegeben sei aber, daß das Nation­al­be­wußt­sein erst seit dem 18. Jahrhun­dert massen­haft wer­den kon­nte und die Nation deshalb erst in der Fol­gezeit zur auss­chlaggeben­den poli­tis­chen Ord­nungs­größe auf­stieg. Das hat­te wesentlich mit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion zu tun, die den Nation­al­is­mus als entschei­den­des Mit­tel zur Inte­gra­tion der Massen ent­deck­te. Auf­grund der weit zurück­re­ichen­den Tra­di­tion franzö­sis­ch­er Staatlichkeit lag es nahe, die Nation mit dem Staat und Zuge­hörigkeit zur Nation und Staats­bürg­er­schaft zu iden­ti­fizieren.

Insofern kann man die in Frankre­ich zuerst durchge­set­zte Auf­fas­sung des Begriffs Nation nicht sin­nvoll als »sub­jek­tive« beze­ich­nen. Zwar hat es immer wieder Auf­nah­men von Frem­den in die franzö­sis­che Nation gegeben, die wegen ihres Beken­nt­niss­es zu dieser Schick­sals­ge­mein­schaft akzep­tiert wur­den, aber die berühmte Formel Ernest Renans – »Die Nation ist ein täglich­es Plebisz­it« – bezog sich immer darauf, daß die Abstim­mung der vie­len im Sinne ihrer Zuge­hörigkeit zur Nation nur sin­nvoll war, weil sie über etwas Bekan­ntes – näm­lich das his­torisch und aktuell-poli­tisch faßbare Frankre­ich – erfol­gte.

Die Idee, daß das franzö­sis­che oder west­liche Ver­ständ­nis von Nation dem Prinzip der Frei­willigkeit und indi­vidu­ellen Entschei­dung folge, ist auch deshalb abzulehnen, weil so die mas­siv­en – teil­weise gewalt­samen – Assim­i­lierungsver­suche gegenüber nationalen Minoritäten (den Bre­to­nen, Elsässern, Kors­en etwa) nicht erk­lär­bar sind. Tat­säch­lich ist das Konzept in erster Lin­ie etatis­tisch. Dem Akzent auf der Staatlichkeit ste­ht das deutsche Ver­ständ­nis von Nation ent­ge­gen, das gemein­hin als »völkisch« beze­ich­net wird, weil hier die Nation als das zu seinem poli­tis­chen Selb­st­be­wußt­sein gelangte Volk, das heißt eine Herkun­fts- und Kul­turge­mein­schaft, betra­chtet wird. »Objek­tiv« ist diese Zuord­nung insofern, als die Deutschen bis ins 19. Jahrhun­dert keinen Nation­al­staat hat­ten, aber trotz­dem auf sie als Nation Bezug genom­men wer­den kon­nte. Erst nach der Grün­dung des Bis­mar­ck­re­ich­es näherte man sich der west­lichen Auf­fas­sung an, hielt allerd­ings an der Beto­nung des Abstam­mung­sprinzips fest.

Die deutsche Nation­al­staats­bil­dung wird oft »ver­spätet« genan­nt, wen­ngle­ich man festzustellen hat, daß die meis­ten Nation­al­staat­en über­haupt erst im 20. Jahrhun­dert gegrün­det wur­den. Es lassen sich dabei drei große Wellen unter­schei­den: nach 1918, infolge des Zusam­men­bruchs der Vielvölk­er­staat­en Ruß­land, Öster­re­ich-Ungarn und Osman­is­ches Reich; nach 1945, infolge des Kol­laps­es der kolo­nialen Impe­rien und nach 1989, infolge des Unter­gangs der Sow­je­tu­nion. Die uni­ver­sale Aus­dehnung des nation­al­staatlichen Musters kann allerd­ings nicht darüber hin­wegtäuschen, daß die Durch­set­zung eines entsprechen­den Konzepts außer­halb Europas oder der europäisch geprägten Gebi­ete kaum möglich war. Daran hat auch die modis­che Vorstel­lung von der »Kon­struk­tion« ein­er Nation nichts geän­dert, denn für das Scheit­ern des nation build­ing gibt es schw­er­wiegende Gründe, von denen die wichtig­sten sind:
1. fehlende Moder­nität und Nach­wirken des »Trib­al­is­mus«,
2. keine Teil­habe an der Aufk­lärung und dem Auf­stieg des demokratis­chen Gedankens,
3. Fremd­heit gegenüber dem christlichen Prinzip der Brüder­lichkeit und der abendländis­chen Tra­di­tion kul­tureller Son­derung.

Bere­its vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Nation­al­staat tot­ge­sagt, und seit­dem hat man mit Hin­weis auf die Bedeu­tung supra­na­tionaler Zusam­men­schlüsse und glob­al­isiert­er Wirtschaft­szusam­men­hänge dessen voll­ständi­gen Bedeu­tungsver­lust behauptet. Allerd­ings zeigen ger­ade große Krisen, daß die Nation weit­er­hin eine entschei­dende poli­tis­che Bezugs­größe und der Nation­al­staat noch am ehesten in der Lage ist, gegen­zus­teuern.

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Zitate:

Eine Nation ist nicht die ein­fache Addi­tion der Einzel­nen, aus denen sie zusam­menge­set­zt ist; das ist eine Seele, ein Bewußt­sein, eine Per­son, eine lebende Resul­tante. Diese Seele kann in ein­er sehr kleinen Zahl von Men­schen lebendig sein…

Ernest Renan

Um im poli­tis­chen Entschei­dungs­fall tat­säch­lich die Geschehen­sein­heit, die soziale Mobil­isierungs­gren­ze darzustellen, muß daher die nationale Verbindlichkeit einen Vorzugswert vor anderen Verbindlichkeit­en besitzen. Die Ori­en­tierung an ihr muß andere Ori­en­tierungsweisen über­wiegen. Die Geschichte der mod­er­nen Nation kann daher aufge­faßt wer­den als die Aus­bil­dung eben dieses Pri­mats an sozialer Legit­im­ität.
Heinz O. Ziegler

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Lit­er­atur: