Natur bezeichnet eigentlich alles, was nicht von Menschenhand ist. In diesem Sinn verwendete die griechische Antike physis, die römische natura. Das Verhältnis des Menschen zur Natur war immer von einer tiefen Ambivalenz bestimmt. Einerseits bot sie die notwendigen Lebens-Mittel, andererseits war die Natur übermächtig und bedrohte die menschliche Existenz. Das hat sich grundsätzlich erst in der Moderne geändert, die mittels Technik einen Grad der Naturbeherrschung erreichte, der ohne Beispiel ist. Allerdings sind damit auch Möglichkeiten geschaffen worden, den Bestand der Natur als solchen in Frage zu stellen (Umwelt), und es ist deutlicher hervorgetreten, daß das Verhältnis des Menschen zur Natur niemals ein rein sachliches sein kann, sondern von starken Empfindungen geprägt ist, die vielleicht in einer biologisch verankerten „Biophilie“ (Edward O. Wilson) wurzeln, sich aber jedenfalls im Zug der menschlichen Entwicklung auf ganz verschiedene Weisen äußerten, von der Vergöttlichung der Naturmächte (Religion) über die Naturromantik bis zum ökologischen Bewußtsein.
Die angesprochene Ambivalenz der Wahrnehmung des Natürlichen wirkt sich in besonderem Maß auf das Selbstverständnis des Menschen aus. Frühzeitig wurde die Bedeutung der Frage erkannt, wie die Natur von der Kultur – dem von Menschenhand Geschaffenen – getrennt werden solle. Bezeichnend, daß sich schon in der Philosophie des Aristoteles ein eigentümliches Schwanken in bezug darauf feststellen läßt, ob es ein natürliches Wesen des Menschen (Menschenbild) gebe, aus dem sich „Naturrechte“ ableiten lassen. Entsprechende Folgerungen waren im Grunde nur möglich, wenn man vom prinzipiellen Gut-Sein der Natur als Ganzes ausging. Diese Auffassung wurde zwar im Laufe der Zeit immer wieder in Frage gestellt, aber die Masse der Religionen und Weltanschauungen vertrat zuletzt die Ansicht, daß die Natur eine sinnvolle Einheit bilde, in der der Mensch seinen Platz finde.
Diese Meinung findet sich auch in der Bibel, wenngleich sie die Natur radikal entgöttlichte und die Vorstellung vom Sündenfall dahin führte, daß auch die Natur insgesamt als erlösungsbedürftig angesehen wurde. Ein Konzept, das noch in der mittelalterlichen Scholastik vertreten wurde, allerdings mit Beginn der Neuzeit und der Infragestellung der christlichen Glaubenswahrheit von zwei Seiten unter Druck geriet: Durch die Vorstellung einer ganz guten Natur und durch die Vorstellung einer ganz bösen Natur. Die Diskussion hatte vor allem Auswirkungen auf das Menschenbild und führte seit dem 17. Jahrhundert entweder zu der optimistischen Annahme, daß der Mensch von Natur gut oder von Natur böse sei.
Die erste dieser beiden Optionen hat im Gefolge von Aufklärung und Französischer Revolution erheblich an Einfluß gewonnen, die zweite verdankt ihre anhaltende Wirkung einer bestimmten Interpretation des Darwinismus. Während die Linke deshalb dazu neigt, eine gute Natur zu postulieren, steht die Rechte ihr ambivalent gegenüber. Dabei kann die Linke ihre Anschauung nur aufrechterhalten, indem sie eine vordarwinistische Anschauung der Natur verficht – das ist auch in bezug auf ihren Ökologiebegriff festzustellen – während die Rechte gelegentlich einen harten Naturalismus vertritt oder doch davon ausgeht, daß der Schluß vom – natürlichen – Sein auf das menschliche Sollen als solcher legitim ist. In letzterem Fall konvergieren Vorstellungen, die aus der philosophischen Tradition herrühren, und solche, die sich aus der Ethologie oder verwandten Disziplinen herleiten.
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Zitate:
Wir können vernünftigerweise nicht annehmen, der Natur entkommen zu können. Wir können nur wählen, ob wir sie als erinnerte gegenwärtig halten oder der vergessenen anheimfallen wollen.
Die Natur ist ewig fruchtbar, von allem, was sie bildet, ist nur das unterste im toten Steine in stehenden Formen starr befestigt; alles Höhere läuft ewig verjüngt durch immer andere Gestalten durch, und immer wird, was vorher dagewesen, in jede neue Bildung aufgenommen. Das sei auch Vorbild jedes menschlich geistigen Beginnens; das Vorhandene soll geachtet werden und geehrt und eingehen in jedes neu Erzeugte, aber es wolle nicht dem Leben seine bildende Kraft entreißen und allen Fortschritt stehend machen. Wer, das lebendig Gute der Gegenwart blind verschmähend, sich ausschließend an das Vergangene haftet, erweckt den Verdacht, daß er durch eine Nebenabsicht sich leiten lässt, die er sich kundzugeben scheut.
Joseph Görres
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Literatur:
- Erwin Chargaff: Was ist Natur?, in: Scheidewege 24 (1991), S. 25–36
- Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum [1996], zuletzt Frankfurt a. M. 2008
- Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels [1973], zuletzt München 1992
- Robert Spaemann: Philosophische Essays [1983], zuletzt Stuttgart 1994