Öffentliche Meinung

Öffentliche Mei­n­ung ist ein Begriff, der häu­fig kon­ser­v­a­tiv­er Kri­tik unter­liegt, aber sein­er­seits kon­ser­v­a­tiv­en Ursprungs ist. Als pub­lic opin­ion beze­ich­nete der Tory-Führer Bol­ing­broke zu Beginn des 18. Jahrhun­derts die »wahre Mei­n­ung des Volkes«, die er zur Recht­fer­ti­gung seines Kampfes gegen das par­la­men­tarische Whig-Regime ins Spiel brachte. Bol­ing­broke ver­suchte auch schon durch pub­lizis­tis­che Mit­tel und Pro­pa­gan­da Ein­fluß auf Entste­hung und Aus­rich­tung dieser Öffentlichen Mei­n­ung zu nehmen, wom­it er dem para­dox­en Sachver­halt Rech­nung trug, daß die Öffentliche Mei­n­ung ein­er­seits als gegebene Größe gilt – etwa im Sinn ein­er Tiefen­schicht all­ge­mein­er Überzeu­gun­gen, Men­tal­ität, »gesun­des Volk­sempfind­en« etc. –, die ander­er­seits unfähig ist, sich selb­st zum Aus­druck zu brin­gen oder dabei eine Kanal­isierung erfährt, die sie der volon­té générale (teil­weise) ent­fremdet.

Zweifel­los gab es das Phänomen Öffentliche Mei­n­ung in jed­er Gesellschaft und spielte sie ger­ade wegen ihrer Latenz eine wichtige Rolle bei sozialer Kon­trolle und Diszi­plin­ierung, aber erst in Vor­bere­itung der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion kam der Beru­fung auf die Öffentliche Mei­n­ung jene legit­imierende Funk­tion zu, die sich dann im 19. Jahrhun­dert durch­set­zte, mit der Entwick­lung des Zeitungswe­sens, wach­sender Kom­mu­nika­tions­dichte und Demokratisierung. Jet­zt erst kon­nten sie Beobachter als heim­liche »Groß­macht« oder als »vierte Gewalt« auf­fassen.

An der grund­sät­zlichen Unklarheit über das Wesen der Öffentlichen Mei­n­ung änderte das aber nichts, eher im Gegen­teil. Denn der Zer­fall der älteren Gesellschaft­sor­d­nung führte zu massen­hafter Verun­sicherung der Men­schen, die sich mit ihren Überzeu­gun­gen immer weniger an über­liefer­ten Vorstel­lun­gen ori­en­tierten und für Manip­u­la­tio­nen anfäl­liger wur­den. Trotz­dem wird man sich hüten müssen, das Vorhan­den­sein ein­er Öffentlichen Mei­n­ung ein­fach als Fik­tion anzuse­hen. Fer­di­nand Tön­nies hat stattdessen vom Nebeneinan­der ein­er »unar­tikulierten« Öffentlichen Mei­n­ung – einem »Kon­glom­er­at man­nig­fach­er und wider­sprechen­der Ansicht­en« – und ein­er »artikulierten« – als »ein­heitlich­er Potenz, als Aus­druck gemein­samen Wil­lens« – gesprochen.

In der poli­tis­chen Prax­is bleibt jedoch das Prob­lem, wie sich die Artiku­la­tion der Öffentlichen Mei­n­ung selb­ständig vol­lziehen kann. Der Hin­weis auf die Ver­führbarkeit, den Irra­tional­is­mus und die Schlag­wor­tan­fäl­ligkeit der Öffentlichkeit weckt regelmäßig den Wun­sch, die Öffentliche Mei­n­ung als Ganze zu ignori­eren oder ein voll­ständi­ges Sys­tem zu deren Beherrschung zu entwick­eln. Das 20. Jahrhun­dert ist auf diesem Weg sehr weit gekom­men. Allerd­ings kann von ein­er total­en Kon­trolle nicht ein­mal unter den Bedin­gun­gen eines total­itären Regimes die Rede sein. Das zeigt sich noch an jed­er oppo­si­tionellen Regung, die Unter­stützung find­et, jed­er Rev­o­lu­tion, jed­er »Wende«, jedem Pop­ulis­mus und jedem Umschwung des Zeit­geistes.

Der­ar­tige Vorgänge wer­den auch dadurch bewirkt, daß die Öffentliche Mei­n­ung, soweit sie »veröf­fentlichte Mei­n­ung« ist, niemals flächen­deck­end wirken kann und niemals alle unter­schwelli­gen Strö­mungen des Kollek­tivbe­wußt­seins zu erfassen ver­mag. Selb­st wenn es gelun­gen ist, die Ver­fechter abwe­ichen­der Anschau­un­gen zu isolieren und zu diskred­i­tieren, so daß sie sich dem Dik­tat der »Schweige­s­pi­rale« (Elis­a­beth Noelle-Neu­mann) unter­w­er­fen, hat das noch nie deren voll­ständi­ges Ver­schwinden bewirken kön­nen. Es gibt regelmäßig Wider­stand­szen­tren, die die »kul­turelle Hege­monie« (Metapoli­tik) nicht akzep­tieren und – wirkungs­los oder wirkungsvoll – Weltan­schau­un­gen ver­fecht­en, die ihrer­seits Anspruch erheben, die Öffentliche Mei­n­ung zu repräsen­tieren und zu bee­in­flussen.

– — –

Zitate:

In der öffentlichen Mei­n­ung ist alles falsch und wahr, aber das Wahre in ihr zu find­en, ist die Sache des großen Mannes.
Georg Wil­helm Friedrich Hegel

Heute läßt sich nach­weisen, daß Men­schen auch dann, wenn sie hellwach sehen, daß ein Weg falsch ist, doch in Schweigen ver­fall­en, wenn sie sich mit Reden isolieren wür­den, wenn näm­lich die öffentliche Mei­n­ung – Mei­n­un­gen und Ver­hal­tensweisen, die man öffentlich zeigen kann, ohne sich zu isolieren –, wenn also der all­ge­meine Kon­sens, was guter Geschmack und was die moralisch richtige Ansicht ist, dage­gen­ste­ht.
Elis­a­beth Noelle-Neu­mann

– — –

Lit­er­atur:

  • Wil­helm Bauer: Die öffentliche Mei­n­ung und ihre geschichtlichen Grund­la­gen [1914], zulet­zt Aalen 1981
  • Hans Dom­i­zlaff: Die Gewin­nung des öffentlichen Ver­trauens [1939], zulet­zt Frank­furt a.M. 2005
  • Han­no Kest­ing: Öffentlichkeit und Pro­pa­gan­da. Zur The­o­rie der öffentlichen Mei­n­ung [1966], zulet­zt Bruch­sal 1995
  • Elis­a­beth Noelle-Neu­mann: Die Schweige­s­pi­rale [1980], zulet­zt München 2001
  • Fer­di­nand Tön­nies: Kri­tik der öffentlichen Mei­n­ung [1922], zulet­zt Saar­brück­en 2006