Schnur, Roman — Staatsrechtler, 1927–1996

Roman Schnur gehörte zu den pro­fil­iertesten und orig­inell­sten Vertretern der Staat­srecht­slehre der ersten Jahrzehnte der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land. Seine beson­deren Inter­essen gal­ten der Ver­wal­tung­sor­gan­i­sa­tion und –reform, der europäis­chen Staat­sphiloso­phie der Neuzeit zwis­chen Mac­chi­avel­li, Bod­in und Hobbes sowie ins­beson­dere dem Werk von Carl Schmitt. An der Rezep­tion von Schmitt in der Bun­desre­pub­lik hat­te Schnur entschei­den­den Anteil. Ein großes Inter­esse galt der Ver­fas­sungs­geschichte Frankre­ichs und Polens sowie der poli­tis­chen Ideengeschichte dieser Län­der.

Der Sohn eines katholis­chen Volkss­chullehrers aus dem Saar­land, geboren am 21. Okto­ber 1927, wurde im Zweit­en Weltkrieg noch als Luft­waf­fen­helfer einge­set­zt und mußte nach Kriegsende zunächst die Abitur­prü­fung nach­holen. Ab 1947 studierte er Rechtswis­senschaften an der von der franzö­sis­chen Besatzungs­macht neuge­grün­de­ten Uni­ver­sität Mainz. Die Pro­mo­tion über die Geschichte des ersten Rhein­bun­des von 1658 erfol­gte 1953 bei dem Recht­shis­torik­er Karl Siegfried Bad­er. Anschließend wurde er unter dem Recht­sphilosophen Theodor Viehweg Redak­teur für „Poli­tis­che Philoso­phie“ der Zeitschrift Archiv für Rechts- und Sozial­philoso­phie (ARSP) und zugle­ich „Hil­f­sas­sis­tent“ in Mainz. Seit 1951 stand er mit dem damals noch weit­ge­hend gemiede­nen Carl Schmitt in Kon­takt und gehörte bald zu dessen engeren Schülern. Schnurs Vet­ter Ernst Schilly war 1943/44 Schmitts Nach­bar in Berlin-Schlacht­ensee und hat­te diesen auf Schmitts „Ver­fas­sungslehre“ aufmerk­sam gemacht. Daneben bildete Schnur bere­its in dieser Zeit europäis­che Net­zw­erke, etwa zu Rein­hart Kosel­leck in Hei­del­berg und Alexan­dre Kojève in Paris.

1956 wurde Schnur Assis­tent von Carl-Her­mann Ule, eines Schülers von Otto Koell­reut­ter, an der Ver­wal­tung­shochschule Spey­er. 1957 wurde eine Habil­i­ta­tion bei dem in Hei­del­berg lehren­den Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff vere­in­bart. 1961 erfol­gte die Habil­i­ta­tion für Öffentlich­es Recht in Hei­del­berg über den Geset­zes­be­griff. Mit dem damals in Hei­del­berg lehren­den Ernst-Wolf­gang Böck­en­förde gehörte Schnur 1962 zu den Grün­dern der wiederum Carl Schmitt beson­ders verpflichteten Zeitschrift Der Staat. Als geschäfts­führen­der Her­aus­ge­ber schrieb Schnur wenig später an Carl Schmitt, unter den Her­aus­ge­bern (Wern­er Weber, Hans-Julius Wolff, Ger­hard Oestre­ich) sei „wed­er ein Link­er, ein Rechthaber noch ein Spät­sieger“. Seit 1961 war Schnur unter Min­is­ter­präsi­dent Peter Alt­meier in der rhein­land-pfälzis­chen Staatskan­zlei als Regierungsrat beschäftigt; er galt als Fach­mann der Ver­wal­tungsre­form. 1965 wurde Schnur an die wenige Jahre zuvor gegrün­dete Ruhr-Uni­ver­sität Bochum berufen, um mit einem Lehrauf­trag für Poli­tis­che Wis­senschaft einen Stu­di­en­gang für Ver­wal­tungswis­senschaft zu begrün­den. 1968 wurde Schnur als Nach­fol­ger von Fritz Morstein Marx auf den Lehrstuhl für Ver­gle­ichende Ver­wal­tungswis­senschaft und Öffentlich­es Recht berufen. 1972 wech­selte er erneut auf den Lehrstuhl für Öffentlich­es Recht in Tübin­gen, das bis zulet­zt den Mit­telpunkt seines Wirkens bilden sollte.

Das Werk von Schnur ist aus­ge­sprochen viel­seit­ig. Neben eher tech­nokratis­chen Veröf­fentlichun­gen zur Ver­wal­tun­sglehre und –reform ste­hen Grund­la­gen­forschun­gen zur Staat­s­the­o­rie und ihrer Geschichte mit einem beson­deren Schw­er­punkt auf Frankre­ich, darunter etwa auch ein Quel­len­band zur Erk­lärung der Geschichte der Men­schen- und Bürg­er­rechte. Her­vorzuheben ist seine vielle­icht wichtig­ste Rolle als Garant eines kon­ser­v­a­tiv­en Net­zw­erkes. Er war der führende Vertreter der ersten bun­des­deutschen Schü­ler­gen­er­a­tion von Carl Schmitt und set­zte sich für dessen Rezep­tion ein, so als Her­aus­ge­ber und Redak­teur von Zeitschriften oder der ersten (umstrit­te­nen) Festschrift für Carl Schmitt. Neben zahlre­ichen Besuchen in Plet­ten­berg und den dabei geführten „Gesprächen in der Sicher­heit des Schweigens“ (Dirk van Laak) ist ein umfan­gre­ich­er Briefwech­sel über­liefert. Als sicht­bares Pub­lika­tion­sor­gan des von Schnur beförderten Net­zw­erkes, zu dem auch die Staat­srecht­slehrer Hel­mut Quar­itsch und Ernst Forsthoff gehörten, galt die Zeitschrift Der Staat. Daneben veröf­fentlichte Schnur auch teil­weise auto­bi­ographisch gefärbte Prosa­texte.

Roman Schnur ver­starb am 5. August 1996 in Tübin­gen.

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Zitat:

Von dem Augen­blick an, wo der Kreis der Meinen­den immer größer wird, ver­mö­gen die weniger dis­tanzierten Mei­n­un­gen, genauer: inter­essenori­en­tierten Mei­n­un­gen sich in den Mei­n­ungs­bil­dung­sprozeß einzuschal­ten.

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Schriften:

  • Der Rhein­bund von 1658 in der deutschen Ver­fas­sungs­geschichte, Bonn 1955
  • Die franzö­sis­chen Juris­ten im kon­fes­sionellen Bürg­erkrieg des 16. Jahrhun­derts. Ein Beitrag zur Geschichte des mod­er­nen Staates, Berlin 1962
  • Indi­vid­u­al­is­mus und Abso­lutismus. Zur poli­tis­chen The­o­rie von Thomas Hobbes (1600–1640), Berlin 1963
  • Zur Geschichte der Erk­lärung der Men­schen­rechte, Darm­stadt 1964 (2. Aufl. 1974)
  • Strate­gie und Tak­tik bei Ver­wal­tungsre­for­men, Baden-Baden 1966
  • Insti­tu­tion und Recht, Darm­stadt 1968
  • Staat und Gesellschaft. Stu­di­en über Lorenz von Stein, Berlin 1978
  • Vive la République oder vive la France. Zur Krise der Demokratie in Frankre­ich 1939/40, Berlin 1982
  • Polen in Mit­teleu­ropa, Baden-Baden 1984
  • Trans­ver­sale. Spuren­sicherun­gen in Mit­teleu­ropa, Wien 1988
  • Ken­nen Sie Piatig­orsk oder doch wenig­stens Ler­mon­tow? Kauka­sis­ches, Rot­ten­burg 1988 (2. Aufl. 1990)
  • Geschichte in Geschicht­en ver­strickt: von Astra­chan nach Kairouan (über Jeruza­lem), Berlin 1992
  • Die Ermäch­ti­gungs­ge­set­ze von Berlin 1933 und Vichy 1940 im Ver­gle­ich, Tübin­gen 1993

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Lit­er­atur:

  • Frieder Gün­ther: Denken vom Staat her. Die bun­des­deutsche Staat­srecht­slehre zwis­chen Dezi­sion und Inte­gra­tion 1949 bis 1970, München 2004
  • Dirk van Laak: Gespräche in der Sicher­heit des Schweigens. Carl Schmitt in der poli­tis­chen Geis­tes­geschichte der frühen Bun­desre­pub­lik, Berlin 1993
  • Rudolf Morsey/ Hel­mut Quaritsch/ Hein­rich Sieden­topf (Hrsg.): Staat, Poli­tik, Ver­wal­tung in Europa. Gedächt­niss­chrift für Roman Schnur, Berlin 1997
  • Wolf­gang Schuller, Gedenkrede auf Roman Schnur an seinem 70. Geburt­stag: am 20. Okto­ber 1997 vor der Uni­ver­sität Tübin­gen, in: Der Staat 37 (1998)