Theorie des gegenwärtigen Zeitalters — Hans Freyer, 1955

Hans Frey­er ist das promi­nen­teste Beispiel für jenen Prozeß der »self  derad­i­cal­iza­tion« (Jer­ry Z. Muller), der während und nach dem Zweit­en Weltkrieg die Köpfe der Kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion erfaßte und dazu führte, daß sie ihre älteren Vorstel­lun­gen auf­gaben, sel­ten zu den siegre­ichen Weltan­schau­un­gen kon­vertierten, eher den Rück­griff auf die klas­sisch-kon­ser­v­a­tiv­en Posi­tio­nen ver­sucht­en. Im Fall Frey­ers bedeutete das die Abwen­dung von der Mil­i­tanz und dem Opti­mis­mus, die noch seine Schrift Rev­o­lu­tion von rechts (1931) kennze­ich­nen, und die Hin­wen­dung zu ein­er skep­tis­chen Analyse der mod­er­nen Welt mit ihren über­mächti­gen Appa­ra­turen.

Vor­bere­it­et war das, was Frey­er in sein­er The­o­rie des gegen­wär­ti­gen Zeital­ters dar­legte, schon in seinen Arbeit­en über Herrschaft und Pla­nung, aber erst in diesem Spätwerk kam er auf die Unabän­der­lichkeit der Entwick­lung und die Ent­frem­dungser­fahrun­gen zu sprechen, die das Leben in »sekundären Sys­te­men« mit sich bringt. Was ihm in den dreißiger Jahren als faszinieren­der
Prozeß titanis­ch­er Umgestal­tung erschien, dem sich der Men­sch stellen müsse und könne, war jet­zt ein anonymes Schick­sal, dem nicht zu entkom­men war und das zu beja­hen schw­er fall­en mußte. Ein­drück­lich ist das Bild am Anfang des Vor­worts, die Schilderung des Ochsen­wa­gens, der von Orvi­eto her­abfährt, des Nebeneinan­ders von etruskisch­er Nekro­pole, römis­ch­er Antike, Mit­te­lal­ter und Renais­sance, dann die Sig­nale der Gegen­wart in Gestalt kom­mu­nis­tis­ch­er Wahlplakate.

Im Anschluß an Max Weber ver­trat Frey­er die Auf­fas­sung, daß Säku­lar­isierung und Ratio­nal­isierung die Zukun­ft bes­tim­men wür­den: »Die Vision ein­er fer­tig gewor­de­nen, von Man­agern größten For­mats geleit­eten Welt erscheint am Hor­i­zont der Geschichte.« Und: »Eine sehr gle­ich­för­mige Schicht liegt, dün­ner oder stärk­er, run­dum über dem Plan­eten.« Posthis­toire und Glob­al­isierung waren wichtige The­men der geschicht­sphilosophis­chen und sozi­ol­o­gis­chen Debat­ten der fün­fziger Jahre und die Wirkung der The­o­rie des gegen­wär­ti­gen Zeital­ters ganz wesentlich darauf zurück­zuführen, daß hier jemand ver­schiedene Aus­sagen bün­delte und so etwas wie eine Gesamt­deu­tung vor­legte.

Daß diese von einem res­ig­na­tiv­en Ton bes­timmt war, entsprach dur­chaus der vorherrschen­den Stim­mung, so wie die Annahme, daß der großen Ent­frem­dung, die sich anbah­nte bzw. vol­l­zo­gen hat­te, nur der einzelne wider­ste­hen könne, Wider­stand leis­tend oder nachgebend, je nach Lage der Dinge. Man sollte Frey­er par­al­lel zu Jüngers Waldgang lesen oder als Exp­lika­tion zu Rilkes »Wer spricht von Siegen? Über­stehn ist alles«.

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Zitat:

Kommt es aber zu dem Ver­such, durch Ein­satz von Kräften aus dem Fonds des Erbes der Ent­frem­dung Herr zu wer­den, so bedeutet ger­ade diese Leere der ent­fremde­ten For­men eine pos­i­tive Chance, näm­lich eine nahezu unbeschränk­te Man­nig­faltigkeit möglich­er Erfül­lun­gen. Sie erweisen sich dann als Hohlfor­men, die von den ver­schieden­sten men­schlichen Voraus­set­zun­gen aus über­nom­men und, wenn es gut geht, bewältigt wer­den kön­nen.

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Aus­gabe:

  • 6. Auflage, Stuttgart: DVA 1967

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Lit­er­atur:

  • Jer­ry Z. Muller: The Oth­er God That Failed. Hans Frey­er and the Derad­i­cal­iza­tion of Ger­man Con­ser­vatism, Prince­ton 1987
  • Rolf Peter Siefer­le: Tech­nik als Rüs­tung des rev­o­lu­tionären Volkes: Hans Frey­er, in: ders.: Die Kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion. Fünf biographis­che Skizzen, Frank­furt a. M. 1995