Es gibt für Personen wie für Völker verschiedene Möglichkeiten, sich die Welt anzueignen. Die einen gründen Imperien, die anderen verbreiten ihre bevorzugte Religion, wieder andere durchdringen den Planeten mit ihren Handelsprodukten. Zur typisch deutschen Form der Weltaneignung gehörten in der Frühen Neuzeit zweifellos Kartographie und Geographie. Die Liste der hierzulande entwickelten Neuerungen auf diesem Feld ist beachtlich. Dazu gehören der erste Globus der Welt von Martin Behaim (1493), die erste Weltkarte, auf der auch der Name „Amerika“ auftauchte, von Martin Waldseemüller (1507) und auch die erste Einzeldarstellung des amerikanischen Doppelkontinents durch Sebastian Münster (1544). Das sind nur einige der Namen, die damals mit ihrem Weltruf und ihren Kosmographien das Weltbild der Zeit mitprägten.
Gerhard Mercator (1512–1594) produzierte seit den 1530er Jahren mehrere Auflagen von Weltgloben, zunächst als Mitarbeiter, später als Federführer. Die in vollem Gang befindliche Entdeckung der Welt aus europäischer Perspektive machte in der Darstellung stets Änderungen möglich und nötig. Berühmt wurde Mercator allerdings nicht durch ein Einzelwerk, sondern durch eine neue Methode der Darstellung. Jeder kennt den Eindruck der Welt aus der Perspektive, die er gefunden hat, aus der zweidimensionalen Kartendarstellung in der Mercator-Projektion.
Der Grundgedanke ist im Prinzip einfach: Man stelle sich einen transparenten Globus mit einem Licht im Zentrum innerhalb eines Zylinders vor. Die Kontinente würden an der Innenwand des Zylinders einen Schatten werfen. Schneidet man den Zylinder senkrecht auf und rollt die Innenwand aus, sieht man die Welt vor sich, wie sie auf der Mercator-Projektion erscheint. Das hat bekanntlich Vor- und Nachteile. Ein gerader Kurs, der auf einer solchen Karte eingetragen wird, führt tatsächlich ans Ziel. Deshalb ist die Mercator-Projektion für die Seefahrt stets von großem Wert gewesen, was der Titel der ersten großen Mercator-Weltkarte von 1569 auch ausdrücklich als Anwendungsgebiet empfahl. Als Nachteil des Ganzen stellt sich bereits auf den ersten Blick die Größenverzerrung der Länder heraus. Die eigentlich vergleichsweise winzige Antarktis etwa erscheint auf der Mercator-Karte wie eine gigantische, erdumspannende Landmasse.
So paßte die Mercator-Projektion auf doppelte Weise in das Europa der Frühen Neuzeit, dessen Seefahrt die Kontinente zum erstenmal miteinander verknüpfte. Ihre Methode half dabei mit, während dieses Vorgangs die Orientierung nicht zu verlieren. Zugleich stellte die Mercator-Karte für Jahrhunderte die Welt so dar, wie sie bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts auch strukturiert sein sollte. Europa lag in ihrem Zentrum, und in Europas Zentrum lag Deutschland. Der Rest der Welt erschien gigantisch, geheimnisvoll, bereit für seine Entdeckung und — freundlich ausgedrückt — praktische Erschließung. An der nun wiederum beteiligte sich Deutschland in der Praxis nur wenig. Das spätere Land der Dichter und Denker nahm seine Zukunft vorweg und beließ es bei der intellektuellen Durchdringung, in diesem Fall auch bei der visuellen.
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Literatur:
- Michael Föllmer: Die Welt des Gerhard Mercator. Karten, Atlanten und Globen aus Duisburg, Duisburg 2006
- Ute Schneider/Stefan Brakensiek (Hrsg.): Gerhard Mercator. Wissenschaft und Wissenschaftstransfer, Darmstadt 2015