Ist Goethes Faust für die Deutschen das, was die Spanier am Don Quichotte, die Griechen an der Odyssee oder die Italiener an der Göttlichen Komödie haben? Also: eine Quintessenz der Volksseele, oder weniger pathetisch: des Volkscharakters, eine Leitfigur, an der entlang und durch die geprägt sich ein Volk der Welt annähert und sie sich aneignet?
Ist der Fauststoff in der Fassung durch Goethe das Buch, auf das die Deutschen warteten und das sie als eine endlich gültige literarische Formung ihrer selbst annahmen, dargereicht vom Dichterfürsten höchstselbst? Diese Auffassung vertrat neben vielen anderen Friedrich Wilhelm Schelling, der das Werk für „das eigentümliche Gedicht der Deutschen“ erklärte und forderte, man müsse es in den Schulen als nationale Lektüre behandeln, und der junge Hegel ging noch weiter, indem er im Faust die Tragik des Menschseins insgesamt wahrnahm — weil Mensch werden heiße, vom Unendlichen losgerissen zu sein und die Wiedervereinigung zu ersehnen.
Johann Wolfgang von Goethe (1748–1832) hat über ein halbes Jahrhundert lang an seinem Faust gearbeitet — natürlich nicht ununterbrochen, sondern in Phasen, aber viel, viel länger als an jedem anderen seiner Werke. Manchmal lag der Stoff jahrelang in der Schublade und entwickelte sich nicht schriftlich, sondern allenfalls im Dichter selbst weiter. Der veröffentlichte ihn in Etappen: zunächst 1790 das Fragment, das mit der Domszene abbrach und Gretchens Ende offenließ. Das literarische Deutschland spekulierte, schlug vor, ratschlagte, bis 1808 der Tragödie vollendeter Erster Teil erschien, mit einem gerichteten und geretteten Gretchen und einem Faust, der — eine Lebensspur ziehend — diese arme junge Frau einfach unterpflügte.
Mit diesem Faust wurde man nicht fertig, aber er war in sich abgeschlossen und schrie nicht lauthals nach einer Fortsetzung. Diese erschien als der Tragödie Zweiter Teil auch erst posthum, vollendet hatte Goethe sie erst wenige Wochen vor seinem Tode, und darin sahen seine von seiner Sendung überzeugten Schüler und Deuter ein höheres Zeichen: Das entscheidende Werk des Genies, mit dem er das Deutsche faßte, blieb nicht unvollendet, aber wie leergeschöpft verstarb der Schöpfer nach der letzten Kelle! Daß man 1887 dann im Nachlaß einer adeligen Dame die Handschrift eines „Urfausts“ entdeckte, deren Niederschrift vor 1776 datierte, bewies die lebenslange Beschäftigung Goethes mit einem Stoff, dem selbst er (selbst er!) beinahe nicht beigekommen wäre.
Ist es so kompliziert, das Deutsche? Goethe hat nach einem alten Erzählstoff gegriffen, einem Quacksalber namens Faust, der mit dem Teufel einen Bund eingeht, um auf Erden zu triumphieren, Reichtümer anzuhäufen, verbotene Freuden zu genießen und medizinisch mit seinem Teufelszeug zu verblüffen. Die Geschichten gelangten auch ins Puppentheater, und dort ist Faust Goethe zum erstenmal begegnet. Bis kurz vor seinen Tod veredelte er diesen allgemeinmenschlichen und gerade deshalb deutschen Stoff: Faust sieht sich im Faust in alle denkbaren Lebenslagen versetzt, immer auf der Suche nach einem Augenblick, zu dem er sagen müßte: „Verweile doch, du bist so schön!“, was nichts anderes ist als ein sehr oberflächlichler Ausruf für jenen Zustand, in dem man nicht mehr weiterstrebt. Faust ist also immer unterwegs zum Nicht-mehr-Faustischen, zu einem Ende der Suche, des Ausprobierens, des Vernutzens, Experimentierens und Zugreifens, das meist ein übergriffiges Zugreifen ist, eine zerstörerische Ungeduld und Rücksichtslosigkeit.
Faust: unterwegs dorthin, wo Sehnsucht und Erreichtes, Theorie und Wirklichkeit restlos ineinanderpassen. Indes: Wodurch — noch einmal — wäre dieses Treiben gerechtfertigt? Durch Fausts ehrliche Sehnsucht und Suche nach einer Wiedervereinigung mit dem All-Einen, aus dem er als Mensch gefallen sei? Der große Geschichtsdenker Jacob Burckhardt sagte es so: „Es ist ein festes, unabweichliches Schicksal der gebildeten deutschen Jugend, daß sie in einem bestimmten Lebensalter am Faust bohre und grüble. Goethe im Himmel freuet sich darüber, daß die deutsche Jugend wie im Leben, so auch in seinem Gedicht mehr irrt und sucht, als fertige Resultate gewinnt.“
Und Eckermann, Goethes langjähriger Sekretär, notierte 1826: „Es gehört unter den angesehenen jungen Leuten zum guten Tone, daß sie den Faust mit auf Reisen nehmen. Das Buch reizt sie an, weil sie es im ganzen nicht verstehen, es aber doch im einzelnen ihnen mit so entschiedener Klarheit entgegentritt, daß sie getäuscht werden, als verständen sie es. Ich kam auf den Gedanken, daß, um auf die Dauer zu fesseln, man nicht alles aussprechen, sondern manches problematisch lassen müsse, und daß die Natur und die Gottheit selbst den Menschen eben deswegen fortführend so viel zu schaffen machen, weil beide so große Probleme sind.“
In beiden Zeugnissen ist das Herumirren in dieser Dichtung als Schicksal und als Übertrag aus dem Leben gedeutet. Kann eine Dichtung, in der sich die „gebildete deutsche Jugend“ ständig verirrt, zu einem echten Volksbuch, also zu einer volkstümlichen Dichtung, also: zu Volksgut werden? Ein deutliches Ja, aber eben so, daß Verse epigrammatisch herausgelöst und zu Redewendungen oder Lebensweisheiten gemacht werden, und das ist aus dem Faust heraus überdimensional geschehen. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“ steht über hunderttausend Wirtshausbänken eingeschnitzt, sofern das alte Mobiliar noch erhalten ist; „Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube“ (neuerdings über Kirchenportalen), „Es irrt der Mensch, solang er strebt“ (über Stundenplänen der gebildeten deutschen Jugend), „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Pfades wohl bewußt“ (an Gefängnismauern), oder auch: „Mit Worten läßt sich trefflich streiten“ (über „Dem deutschen Volke“) — man darf davon ausgehen, daß die Deutschen in ihren gebildeteren Phasen schon sprachlich faustisch durchs Leben gingen.
Was aber ist nun „des Pudels Kern“? Wohl das grüblerische, rastlos suchende, keine Grenze akzeptierende deutsche Gemüt, das im besten und im schlimmsten Fall einen Plan umsetzt, ohne dabei auch nur eine einzige Fünf grade sein zu lassen. Faust leidet daran, daß die Welt nicht aufgeht. Die Deutschen leiden daran. Seit 1832 ist das gültig in Worte gefaßt.
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Literatur:
- Ernst Beutler: Essay um Goethe, Frankfurt a. M. 1995
- Paul Requadt: Goethes „Faust I“. Leitmotivik und Architektur, München 1972
- Erich Trunz: Ein Tag aus Goethes Leben. Acht Studien zu Leben und Werk, München 1999