Daß sich die Leipziger knapp hundert Jahre nach seinem Tod wieder an seinen Namen erinnerten, ihm seiner Musik wegen Ehrfurcht und Bewunderung aussprachen, das hatte Johann Sebastian Bach posthum vor allem Felix Mendelssohn Bartholdy zu verdanken. Mit der Wiederaufführung der Matthäuspassion am 11. März 1829 in Berlin löste der damals 20jährige Dirigent eine regelrechte Bach-Renaissance aus.
Auch Robert Schumann, der eigentlich in die Stadt der großen Verlage wie Brockhaus, Reclam oder auch Breitkopf & Härtel gekommen war, um dort Jura zu studieren, ließ sich statt dessen viel lieber von Kantaten und Oratorien inspirieren. Heute liegen das Leipziger Bach-Archiv sowie das Mendelssohn- und das Schumann-Haus in fußläufig erreichbarer Nähe zueinander und erinnern als Dreiklang Besucher ebenso wie Einheimische an die drei Komponisten, die in dieser Stadt und weit darüber hinaus Musikgeschichte geschrieben haben.
Am Tag des kalendarischen Frühlingsanfangs war Johann Sebastian Bach 1685 geboren worden. Und ähnlich dieser Jahreszeit können auch Leben und Schaffen dieses außergewöhnlichen Musikers als ein kontinuierlicher Weg zur Blüte skizziert werden: Organist in Mühlhausen, Hoforganist und später Hofkonzertmeister in Weimar, schließlich Thomaskantor in Leipzig. Dort beginnt der große Lebensabschnitt als Komponist, in dem er der geistlichen Musik in Deutschland seinen unverwechselbaren Stempel aufdrückt. Er komponiert Kantaten und Passionen, Oratorien, Präludien und Fugen, ebenso weltliche Musik wie Tänze und Kantaten.
Doch nach dem Tode Bachs im Jahr 1750 erklingen seine Werke immer seltener. Sie gelten sowohl beim Publikum als auch für Orchestermusiker als schwierig, genießen den zweifelhaften Ruf, „etwas für Liebhaber“ zu sein, und verschwinden immer mehr aus dem öffentlichen musikalischen Gedächtnis. Zudem genießt Musik vergangener Epochen im 18. Jahrhundert keine besondere Popularität, das Publikum blickt höchstens 30 bis 40 Jahre zurück. Allenfalls „Kollegen“ Bachs wie die Vertreter der Wiener Klassik sind mit dessen Werk vertraut. Zumindest von Mozart wie auch von Haydn und Beethoven ist dies bekannt.
Erst mit dem einsetzenden Historismus im 19. Jahrhundert beginnt auch die Allgemeinheit, sich eingehend für das Schaffen vergangener Epochen zu interessieren. Im Falle des Bachschen Werkes wurde der interessierten Öffentlichkeit somit bewußt, daß der gebürtige Eisenacher nicht bloß eine zeitgeistige Unterhaltung, sondern ein musikepochales Phänomen geschaffen hatte. Das „Wohltemperierte Klavier“ wird plötzlich zum Pflichtrepertoire eines jeden bürgerlichen Haushalts mit Klavier. Bis in die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts zehren Erforschung und Pflege des Werkes von der Renaissance 200 Jahre zuvor, die gemeinhin als fundamentaler Vorgang in der Musikgeschichte anerkannt wird.
Konkret ist es die 1791 entstandene Berliner Sing-Akademie, die das Werk Bachs vor dem Schicksal des Vergessenwerdens bewahrt. Deren Gründungsdirektor, Carl Friedrich Fasch, läßt von Beginn an kleinere Werke Bachs einstudieren und aufführen. Eine Schlüsselrolle in der Bach-Renaissance kommt jedoch Faschs Nachfolger Carl Friedrich Zelter zu. Er bearbeitet Teile der Matthäuspassion selbst, hegt vor einer Aufführung jedoch selbst zu viel Respekt. Anders sein Klavierschüler Felix Mendelssohn Bartholdy, ein zum Christentum konvertierter Jude. Als Zwanzigjähriger führt er am 11. März 1829 in der Sing-Akademie die Matthäuspassion auf — es war die erste öffentliche „Wiederbelebung“ des komplexen Werkes seit dem Tod seines Schöpfers. Im Saal sitzen der preußische König und sein Hof. Auch Hegel, Schleiermacher und Heine sind zugegen.
Unter Carl Friedrich Rungenhagen, dem dritten Direktor der Akademie, werden erstmals nach Bachs Tod in den Jahren 1833 bis 1835 auch noch die Johannespassion und die h‑Moll-Messe wieder aufgeführt, unter Rungenhagens Nachfolger Eduard Grell 1857 dann das Weihnachtsoratorium. Die Chorvereinigung trägt entschieden dazu bei, daß die geistliche Musik einem bürgerlichen Publikum außerhalb der Kirche zugänglich gemacht, die ernste Musik gepflegt und nicht zuletzt ein Übergang von der höfischen Musikkultur zur bürgerlichen Musikpflege ermöglicht wird. Bachs Werk wird als musikalisches Gegenstück zu den Monumenten der Gotik, gar als Nationaldenkmal wahrgenommen. Die 1850 gegründete Bach-Gesellschaft nennt die Edition der Werke Bachs eine „Ehrenschuld der Nation“. Und Richard Wagner stellt 1865 fest, Bach verkörpere die Geschichte des deutschen Geistes am besten.
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Literatur:
- Arnold Forchert: Johann Sebastian Bach und seine Zeit, Laaber 2005
- Markus Rathey: Bach-Renaissance, Protestantismus und nationale Identität im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts, in: Marcus Sandl (Hrsg.): Protestantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR, Göttingen 2003, S.177–191
- Albert Schweitzer: J.S. Bach, Leipzig 1908