Wie so manche geniale Erfindung verdankt sich auch die Entstehung der modernen Kreuzfahrt einer ökonomischen Notlage. Als Albert Ballin 1890 seinen Kollegen im Direktorium der Hapag (damals noch nicht Hapag-Lloyd, sondern schlicht die „Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft“) den Vorschlag machte, zur Auslastung der 1888 vom Stapel gelaufenen „Augusta Viktoria“ zusätzlich zum Liniendienst reine und überdies mehrwöchige Lustfahrten zu unternehmen, hielt sich die Begeisterung der anderen Gremiumsmitglieder in engen Grenzen, denn das roch doch sehr nach einem finanziellen Fiasko.
Eine Schiffsreise unternahm zu jener Zeit nämlich nur, wer unbedingt mußte — als zu groß galten die Gefahren und Entbehrungen etwa einer Transatlantikreise. Zwar gab es längst einen Liniendienst zwischen Hamburg und New York, der von Geschäftsleuten ebenso genutzt wurde wie von Auswanderern, doch der praktische Nutzen der Reise stand dabei stets im Vordergrund. Um besagte Risiken und Unannehmlichkeiten zu minimieren, fanden solche Reisen möglichst nicht während der sturmreichen Wintermonate statt. Deshalb lag mit der „Augusta Viktoria“ ein hochmoderner Zweischraubendampfer monatelang ungenutzt auf Reede — Eignern und Aktionären zur Last.
Es war nicht das erste Mal, daß das kaufmännische Genie des 1857 geborenen Albert Ballin sich allen Widerständen zum Trotz durchsetzen sollte. Zuvor hatte Ballin bereits das Geschäft mit den Auswandererpassagen nach Amerika mehrfach revolutioniert, u.a. durch die davor unübliche Bereitstellung eines gewissen Maßes an Komfort für die oft bitterarmen Auswanderer und die Gewährung der Erlaubnis, auch als finanzschwacher Zwischendeckpassagier jene Decks nutzen zu dürfen, die bis dahin den zahlungskräftigeren Passagieren vorbehalten gewesen waren. Zwar hatten englische Reedereien bereits einige Jahrzehnte zuvor kleinere Vergnügungsreisen angeboten, doch Ballins Kreuzfahrtprojekt war dermaßen umfassend ausgelegt, detailliert geplant und mit neuen Ideen versehen, daß Ballin mit Fug und Recht als Erfinder der modernen Kreuzfahrt bezeichnet werden darf.
Die erste moderne Kreuzfahrt startete am 22. Januar 1891 von Cuxhaven aus. 174 Herren und 67 Damen gingen an Bord des ersten Kreuzfahrers mit Kurs auf das Mittelmeer. Kurz vor dem Ablegen stattete der schwer für die christliche Seefahrt begeisterte Wilhelm II. („Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser!“), der zufällig in Cuxhaven weilte, dem Dampfer noch einen Überraschungsbesuch ab — ungeachtet jenes kleinen Fauxpas bei der Taufe des Schiffs, hieß die kaiserliche Gemahlin doch Auguste Viktoria und nicht wie das Schiff „Augusta Viktoria“.
Der hohe Besuch erwies sich in den Folgejahren noch als außerordentlich segensreich für das Hamburger Unternehmen, kam er doch einem kaiserlichen Ritterschlag gleich und war der Marketingcoup schlechthin (die vornehme Bremer Konkurrenz vom Norddeutschen Lloyd nahm es mißvergnügt zur Kenntnis). Die Kreuzfahrtpremiere der Hamburger stand auch sonst — abgesehen von der Durchquerung der stürmisch-rauhen Biskaya, die den meisten Passagieren vorübergehend die Freude an Kaviarbrötchen, Champagner und Austern verdorben hatte — unter einem guten Stern. Man trank und aß reichlich, Getränke und Speisen waren von erlesener Qualität, man sang patriotische Lieder, trank auf das Wohl des Kaisers und verstand sich durchaus als schwimmende Botschaft des aufblühenden deutschen Kaiserreiches an alle Welt.
Nicht nur mit Blick auf die Genußseite der Unternehmung, auch in Sachen Bildungsbeflissenheit erwies sich die erste Kreuzfahrt als stilprägend für spätere Entwicklungen. Die „Augusta Viktoria“ steuerte entlang der Route verschiedene Häfen an, man informierte sich ein wenig über Land und Leute, unternahm Landausflüge und erlebte so manches Abenteuer. Eine kleine Hamburger Reisegruppe etwa verirrte sich gelegentlich eines Landgangs in Beirut in den libanesischen Bergen und wäre dort beinahe einem Schneesturm zum Opfer gefallen. Über all diese Dinge wurde natürlich in der Bordzeitung berichtet. Nach der gelungenen Premiere gab es kein Halten mehr — die Kreuzfahrt entwickelte sich zum glänzenden Geschäft. Bereits zur Jahrhundertwende war die Hamburger Reederei zum erfolgreichen Tourismusanbieter geworden. Man unterhielt eigene Reisebüros und baute auch die ersten reinen Kreuzfahrtschiffe.
Albert Ballin, Kind jüdischer Eltern und Sohn des Betreibers einer kleinen Hamburger Auswandereragentur, starb im Herbst 1918 — er, der dem Kaiser persönlich nahestehende Patriot, nahm sich das Leben, als das Kaiserreich im Sterben lag: „Es wird keine Freude mehr sein, in dieser neuen Welt zu leben“, hatte er zuvor mehrfach geäußert. Das deutsche Kreuzfahrtgeschäft entwickelte sich in den Jahrzehnten nach Ballins Tod weiterhin stürmisch — von den „Kraft durch Freude“-Fahrten der Nationalsozialisten über den Mitte der 60er Jahre einsetzenden Kreuzfahrttourismus für jedermann (auch an die DDR-Parallele mit der „Fritz Heckert“, der „Völkerfreundschaft“ und der „Arkona“ sei erinnert) bis hin zum Kreuzfahrt-Boom des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts führte eine stringente Entwicklungslinie. Die Schiffe wurden immer größer, boten immer mehr Erlebniswelten und gleichen heute eher schwimmenden Plattenbauten. Die mit Lust an barocker Verspieltheit ausgestattete „Augusta Viktoria“ glich demgegenüber noch einem schwimmenden Palast; die 1900 eigens als Kreuzfahrtschiff gebaute „Prinzessin Viktoria Luise“ wiederum zeichnete sich durch einen hochentwickelten Sinn für Ästhetik und Maß aus.
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Literatur:
- Eberhard Straub: Albert Ballin. Der Reeder des Kaisers, Berlin 2001
- Susanne Wiborg: Albert Ballin, Hamburg 2013