612 — Gallus christianisiert die Alemannen

Bere­its im 4. Jahrhun­dert began­nen vom West­en her Mönche, die in Armut und Keuschheit lebten, durch Europa zu streifen. Manche zogen allein, andere in Grup­pen; dabei bevorzugten sie Wege ent­lang von Flüssen oder Seeufern. Mitunter wur­den die wan­dern­den Mönche von Herrsch­ern ein­ge­laden, sich in deren Gebi­et niederzu­lassen. Dann baut­en sie sich Hüt­ten um ein Gebet­shaus, legten Gemüse- und Obst­gärten an, rode­ten die Wälder, um Felder zu gewin­nen.

Eine solche Gruppe von Brüdern brach um 590 von Ban­gor an der irischen Ostküste von Ulster auf. Ihr Führer war Colum­ban, um 540 im Raum Lein­ster (Südo­stir­land) geboren. Ein­er sein­er Gefährten hieß Cal­lech, der Gal­lis­che: Man ver­mutet, daß er um 550 in Irland geboren wurde, seine Eltern jedoch auf die Insel geflüchtete Gal­li­er waren (oder aus den Voge­sen stammten, wie heute ver­mutet). Später wurde er Gal­lus gerufen. Der Über­liefer­ung zufolge wurde Gal­lus von seinen adli­gen Eltern in das Kloster Ban­gor zur Aus­bil­dung gegeben. Dort wei­hte ihn Colum­ban zum Priester.

Die Brüder um Colum­ban und Gal­lus zogen von Irland ins Merowinger-Reich, wo sie zu Lux­ovi­um (Luxeuil, dem heuti­gen Luxeuil-les-Bains) in den Voge­sen ein Kloster errichteten. Nach­dem sie zunächst wohlwol­lend aufgenom­men wor­den waren, geri­eten sie mit Theud­erich, dem merowingis­chen Regen­ten, in Stre­it. Um 609 ließ dieser den Abt und alle irischstäm­mi­gen Brüder ausweisen. In der östlich­sten Prov­inz des Reich­es, am Bodensee, fan­den sie im Land der Ale­man­nen im kleinen Kastell Arbor Felix (Arbon) Auf­nahme und zogen von dort weit­er nach Brig­an­tium (Bre­genz) am Ostufer des Sees.

Die Mönche arbeit­en an sich und ihrer Umwelt, durch Bodenkul­tur (lab­o­ra), Studi­um (lege) und Gottes­di­enst (ora). Solche Arbeit kam nicht nur ihnen zugute, son­dern auch dem frem­den Land. Denn Colum­ban und sein Schüler Gal­lus waren die wesentlichen Per­sön­lichkeit­en auf jen­em bedeut­samen Mis­sion­sweg, der seine Erfolge in der Chris­tian­isierung Europas dadurch wirk­sam zu machen ver­suchte, daß er „Europa dazu­mal wie mit geisti­gen Wän­den“ umgab, wie Rudolf Stein­er ein­mal bemerk­te. Lan­des- oder Volks­gren­zen gal­ten ihm wenig, er dachte darüber hin­aus, wenn er sich mit Land und Leuten beschäftigte, und sprach von „totius Europae“, wenn er die Län­der meinte, die er durch­wan­derte. Colum­ban und Gal­lun waren „pere­gri­ni“, Heimat­lose, anders aus­ge­drückt: Heimat war ihnen dort, wo sie gebraucht wur­den.

Als Colum­ban weit­er­zog, blieb Gal­lus zurück. Er zog mit seinem Gefährten Hilti­bod in das urwaldähn­liche Hin­ter­land und fand an der fis­chre­ichen Steinach den geeigneten Platz zum Bleiben. Nach der bekan­nten Leg­ende kam in der ersten dort ver­bracht­en Nacht ein Bär und nahm von ihren Vor­räten. Als Gal­lus dies bemerk­te, trat er zu dem Bären und befahl dem Tier im Namen des Her­rn: „Hole ein Stück Holz und lege es in das Feuer.“ Der Bär gehorchte und kehrte bald mit einem großen Stück Holz aus dem Wald zurück. Daraufhin gab Gal­lus dem Bären einen Laib Brot. Hilti­bod, der alles mit ange­hört hat­te, sagte zu Gal­lus: „Jet­zt weiß ich, daß der Herr mit dir ist, wenn selb­st die Tiere des Waldes deinem Wort gehorchen.“ Aus dem Wan­der­mönch wurde ein Ein­siedler. Er suchte nicht die Men­schen auf — die Men­schen kamen nun zu ihm in die Klause, oder sie riefen ihn. Gal­lus lernte die Sprache des Volkes und wurde zu einem geschätzten Rat­ge­ber für Adel und Klerus.

Neben Volk­sle­gen­den und der Erwäh­nung in anderen zeit­genös­sis­chen Quellen ist die Hagiogra­phie des heili­gen Gal­lus im wesentlichen in drei Fas­sun­gen über­liefert. Die älteste „Vita vetustis­si­ma Sanc­ti Gal­li“ stammt aus dem 7. Jahrhun­dert und ist nur frag­men­tarisch erhal­ten. Im Auf­trag des St. Galler Abts Gozbert erstellte der Reichenauer Mönch Wet­ti um 820 eine Neu­fas­sung, und sein Schüler, Walah­frid Stra­bo, der größte Gelehrte und Dichter, den das Kloster auf der Insel Reichenau her­vor­brachte, über­ar­beit­ete und erweit­erte sie.

Viele Wun­der wer­den Gal­lus zugeschrieben. So geht die Leg­ende, daß die Tochter des Her­zogs Gun­zo am Hof von Über­lin­gen schw­er krank, ja, von einem Dämon besessen war. Gal­lus wollte erst nicht dor­thin kom­men. Als andere Priester das Mäd­chen heilen woll­ten, verspot­tete sie der Dämon, weil ihr Lebenswan­del nicht ihrer Würde entsprach. Schließlich fol­gte Gal­lus dem Ruf des Her­zogs und kon­nte die Jungfrau heilen. Die reichen Geschenke des Her­zogs gab er an die Armen weit­er, aber dessen aus Dank entsendete Handw­erk­er errichteten große, feste Gebäude und eine Kirche an jen­em Ort, an dem sich Gal­lus niederge­lassen hat­te. So ent­stand im Jahr 612 die Ein­siedlerk­lause an der Steinach.

Gal­lus wurde die Bischof­swürde von Kon­stanz ange­tra­gen, und die Mönche von Luxeuil wählten ihn zu ihrem Abt. Er aber lehnte bei­des ab und kehrte immer wieder in seine Klause zurück, wo er über viele Jahre eine große Schar von Schülern um sich sam­melte, denen er die heili­gen Regeln des Colum­ban lehrte. Gal­lus starb hochbe­tagt an einem 16. Okto­ber; man ver­mutet, irgend­wann zwis­chen 640 und 650. Verehrt in der deutschsprachi­gen Schweiz, in Süd­deutsch­land und im Elsaß, set­zte eine lokale Wall­fahrt zum heili­gen Gal­lus ein. Die ein­stige Mönch­szelle aber entwick­elte sich zu dem bedeu­ten­den Kloster St. Gallen, einem Zen­trum europäisch-christlich­er Kul­tur und ein­er Keimzelle für die Chris­tian­isierung Ale­man­niens.

– — –

Lit­er­atur:

  • Fritz Blanke: Colum­ban und Gal­lus. Urgeschichte des schweiz­erischen Chris­ten­tums, Zürich 1940
  • Max Schär: Gal­lus. Der Heilige in sein­er Zeit, Basel 2011