Bereits im 4. Jahrhundert begannen vom Westen her Mönche, die in Armut und Keuschheit lebten, durch Europa zu streifen. Manche zogen allein, andere in Gruppen; dabei bevorzugten sie Wege entlang von Flüssen oder Seeufern. Mitunter wurden die wandernden Mönche von Herrschern eingeladen, sich in deren Gebiet niederzulassen. Dann bauten sie sich Hütten um ein Gebetshaus, legten Gemüse- und Obstgärten an, rodeten die Wälder, um Felder zu gewinnen.
Eine solche Gruppe von Brüdern brach um 590 von Bangor an der irischen Ostküste von Ulster auf. Ihr Führer war Columban, um 540 im Raum Leinster (Südostirland) geboren. Einer seiner Gefährten hieß Callech, der Gallische: Man vermutet, daß er um 550 in Irland geboren wurde, seine Eltern jedoch auf die Insel geflüchtete Gallier waren (oder aus den Vogesen stammten, wie heute vermutet). Später wurde er Gallus gerufen. Der Überlieferung zufolge wurde Gallus von seinen adligen Eltern in das Kloster Bangor zur Ausbildung gegeben. Dort weihte ihn Columban zum Priester.
Die Brüder um Columban und Gallus zogen von Irland ins Merowinger-Reich, wo sie zu Luxovium (Luxeuil, dem heutigen Luxeuil-les-Bains) in den Vogesen ein Kloster errichteten. Nachdem sie zunächst wohlwollend aufgenommen worden waren, gerieten sie mit Theuderich, dem merowingischen Regenten, in Streit. Um 609 ließ dieser den Abt und alle irischstämmigen Brüder ausweisen. In der östlichsten Provinz des Reiches, am Bodensee, fanden sie im Land der Alemannen im kleinen Kastell Arbor Felix (Arbon) Aufnahme und zogen von dort weiter nach Brigantium (Bregenz) am Ostufer des Sees.
Die Mönche arbeiten an sich und ihrer Umwelt, durch Bodenkultur (labora), Studium (lege) und Gottesdienst (ora). Solche Arbeit kam nicht nur ihnen zugute, sondern auch dem fremden Land. Denn Columban und sein Schüler Gallus waren die wesentlichen Persönlichkeiten auf jenem bedeutsamen Missionsweg, der seine Erfolge in der Christianisierung Europas dadurch wirksam zu machen versuchte, daß er „Europa dazumal wie mit geistigen Wänden“ umgab, wie Rudolf Steiner einmal bemerkte. Landes- oder Volksgrenzen galten ihm wenig, er dachte darüber hinaus, wenn er sich mit Land und Leuten beschäftigte, und sprach von „totius Europae“, wenn er die Länder meinte, die er durchwanderte. Columban und Gallun waren „peregrini“, Heimatlose, anders ausgedrückt: Heimat war ihnen dort, wo sie gebraucht wurden.
Als Columban weiterzog, blieb Gallus zurück. Er zog mit seinem Gefährten Hiltibod in das urwaldähnliche Hinterland und fand an der fischreichen Steinach den geeigneten Platz zum Bleiben. Nach der bekannten Legende kam in der ersten dort verbrachten Nacht ein Bär und nahm von ihren Vorräten. Als Gallus dies bemerkte, trat er zu dem Bären und befahl dem Tier im Namen des Herrn: „Hole ein Stück Holz und lege es in das Feuer.“ Der Bär gehorchte und kehrte bald mit einem großen Stück Holz aus dem Wald zurück. Daraufhin gab Gallus dem Bären einen Laib Brot. Hiltibod, der alles mit angehört hatte, sagte zu Gallus: „Jetzt weiß ich, daß der Herr mit dir ist, wenn selbst die Tiere des Waldes deinem Wort gehorchen.“ Aus dem Wandermönch wurde ein Einsiedler. Er suchte nicht die Menschen auf — die Menschen kamen nun zu ihm in die Klause, oder sie riefen ihn. Gallus lernte die Sprache des Volkes und wurde zu einem geschätzten Ratgeber für Adel und Klerus.
Neben Volkslegenden und der Erwähnung in anderen zeitgenössischen Quellen ist die Hagiographie des heiligen Gallus im wesentlichen in drei Fassungen überliefert. Die älteste „Vita vetustissima Sancti Galli“ stammt aus dem 7. Jahrhundert und ist nur fragmentarisch erhalten. Im Auftrag des St. Galler Abts Gozbert erstellte der Reichenauer Mönch Wetti um 820 eine Neufassung, und sein Schüler, Walahfrid Strabo, der größte Gelehrte und Dichter, den das Kloster auf der Insel Reichenau hervorbrachte, überarbeitete und erweiterte sie.
Viele Wunder werden Gallus zugeschrieben. So geht die Legende, daß die Tochter des Herzogs Gunzo am Hof von Überlingen schwer krank, ja, von einem Dämon besessen war. Gallus wollte erst nicht dorthin kommen. Als andere Priester das Mädchen heilen wollten, verspottete sie der Dämon, weil ihr Lebenswandel nicht ihrer Würde entsprach. Schließlich folgte Gallus dem Ruf des Herzogs und konnte die Jungfrau heilen. Die reichen Geschenke des Herzogs gab er an die Armen weiter, aber dessen aus Dank entsendete Handwerker errichteten große, feste Gebäude und eine Kirche an jenem Ort, an dem sich Gallus niedergelassen hatte. So entstand im Jahr 612 die Einsiedlerklause an der Steinach.
Gallus wurde die Bischofswürde von Konstanz angetragen, und die Mönche von Luxeuil wählten ihn zu ihrem Abt. Er aber lehnte beides ab und kehrte immer wieder in seine Klause zurück, wo er über viele Jahre eine große Schar von Schülern um sich sammelte, denen er die heiligen Regeln des Columban lehrte. Gallus starb hochbetagt an einem 16. Oktober; man vermutet, irgendwann zwischen 640 und 650. Verehrt in der deutschsprachigen Schweiz, in Süddeutschland und im Elsaß, setzte eine lokale Wallfahrt zum heiligen Gallus ein. Die einstige Mönchszelle aber entwickelte sich zu dem bedeutenden Kloster St. Gallen, einem Zentrum europäisch-christlicher Kultur und einer Keimzelle für die Christianisierung Alemanniens.
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Literatur:
- Fritz Blanke: Columban und Gallus. Urgeschichte des schweizerischen Christentums, Zürich 1940
- Max Schär: Gallus. Der Heilige in seiner Zeit, Basel 2011