Agnetendorf – Haus Wiesenstein: Niederschlesien, ca. 15 km südwestlich von Hirschberg

Malerisch am Fuße des Riesen­ge­birges (das durch seinen Rübezahl selb­st ein mythis­ch­er Ort ist) gele­gen, von wo aus man sowohl die Schneekoppe als auch die Schnee­gruben sehen kann, wählte der spätere Nobel­preisträger Ger­hart Haupt­mann (1862–1946) im Novem­ber 1899 den kleinen Ort Agne­tendorf (pol­nisch: Jag­ni­atków) für sein zukün­ftiges Dom­izil aus und kaufte sich das unbe­baute Grund­stück um den am Dor­frand gele­ge­nen Hemmhü­bel.

Haupt­mann war zu jen­er Zeit bere­its ein­er der erfol­gre­ich­sten The­ater­schrift­steller der jün­geren Gen­er­a­tion, lebte in Berlin von sein­er Frau Marie und den drei Söh­nen getren­nt und wollte das Ver­hält­nis zu sein­er Geliebten Mar­garete Marschalk, die ein Kind von ihm erwartete, in geord­nete Bah­nen lenken. Haupt­mann ver­stand sich aus­drück­lich als schle­sis­ch­er Dichter (er stammte aus Ober­salzbrunn), der sein Werk »in Hei­ma­ter­de ver­wurzelt« sah und daher heimkehren wollte, weil er es für sein Schaf­fen brauchte: »Nüchtern betra­chtet, gewann ich hier … für meine kün­st­lerische Tätigkeit und das erre­gende Schein­we­sen des The­aters das gesunde Gegengewicht.« Bere­its 1891 hat­te er gemein­sam mit seinem Brud­er Carl ein Som­mer­haus in Mit­telschreiber­hau bezo­gen und im Zuge der Ehekrise ver­lassen.

Am 25. Juni 1900 wurde der Grund­stein zum Haus Wiesen­stein gelegt. Seit 1901 wohnte Haupt­mann in Agne­tendorf in einem Bauern­haus, um schließlich am 12. August 1901 erst­mals gemein­sam mit seinem Sohn Ivo in dem Neubau über­nacht­en zu kön­nen. Das Haus hat eine Grund­fläche von 150 Quadrat­metern und kostete Haupt­mann etwa 200.000 Reichs­mark. »Ein run­der, gedrun­gener Turm gab dem Gebäude etwas Bur­gar­tiges« — »sym­bol­is­ch­er Aus­druck der Gemüt­slage seines Bauher­rn«, als »eine Abwehr der Gegen­wart und zugle­ich eine Abkehr von ihr«, so Haupt­mann über sein neues Dom­izil.

Die Grun­didee zu dem Haus stammte wohl von Haupt­mann selb­st, für die Aus­führung beauf­tragte er den bekan­nten Architek­ten Hans Grise­bach, der auch das erste Haus der Berlin­er Sezes­sion ent­wor­fen hat­te. Haupt­mann gefiel die von Grise­bach bevorzugte For­men­sprache des Eklek­tizis­mus, ins­beson­dere die der Neo­re­nais­sance. Dementsprechend ist auch das heute als Haupt­mann-Muse­um dienende Haus angelegt. Äußer­lich erin­nert es an eine kleine Burg, die frei auf einem Felss­porn ste­ht und die Umge­bung über­ragt. Erre­icht wird dieser Ein­druck vor allem durch den angedeuteten Bergfried, weit­ere Türm­chen und eine Art Wehrgang. Haupt­mann spricht in seinem Buch der Lei­den­schaft von der »Burg«: »Sie ste­ht auf einem Gran­i­trück­en zwis­chen Gletscher­bächen. Die Schnee­gruben über uns, wo sie entsprin­gen, und das ganze Tal sind altes Gletscherge­bi­et. Im Garten sind alte Gran­it­blöcke von mächti­gen Aus­maßen ste­henge­blieben.«

Im Innern ist es wie ein klas­sis­ches Bürg­er­haus angelegt, dominiert von ein­er großen Ein­gang­shalle, von der alle Zim­mer abge­hen und die Haupt­mann 1922 von Johannes Max­i­m­il­ian Ave­nar­ius aus­malen ließ. Diese Malereien, die Vari­a­tio­nen aus Haupt­manns Werken zeigen, sind auch heute noch zu sehen. So schuf sich Haupt­mann eine repräsen­ta­tive Dichter­res­i­denz, die in dieser Form einzi­gar­tig in Deutsch­land sein dürfte und von dem kün­st­lerischen Selb­st­be­wußt­sein ihres Erbauers zeugt. Um Haupt­mann zu besuchen, kamen vie­len Per­sön­lichkeit­en nach Agne­tendorf, das dadurch zu einem Bestandteil der Riesen­ge­birgs­begeis­terung am Anfang des 20. Jahrhun­derts wurde.

Die Größe — und dies macht das Haus schließlich zu einem Ort, der über die Bedeu­tung Haupt­manns hin­aus­ge­ht — liegt darin, daß Haupt­mann in diesem Haus bis zu seinem Tod am 6. Juni 1946 aus­ge­har­rt hat. Dadurch gab es im Ort und in der Umge­bung die Hoff­nung, daß man die Heimat nach der Eroberung durch die Russen nicht würde ver­lassen müssen. Außer­dem wurde bei rus­sis­chen Über­grif­f­en auf die Dorf­be­wohn­er vom Turm aus Alarm geschla­gen. Den Wiesen­stein rührten die Russen nicht an, vielmehr ver­sucht­en sie, Haupt­mann für ein sozial­is­tis­ches Deutsch­land zu gewin­nen. Haupt­manns Sarg ver­ließ dann mit Witwe, Archiv und Ein­rich­tung sowie zahlre­ichen Bewohn­ern Schle­sien mit einem Son­derzug in die Sow­jetis­che Besatzungszone, wo Haupt­mann schließlich auf Hid­densee beerdigt wurde.

Nach der Nutzung des Haus­es als Kinder- und Ferien­heim wurde es seit 1999 saniert und 2001 als Muse­um »Ger­hart Haupt­mann Haus« eröffnet, in dem es außer dem Haus selb­st kaum Orig­i­nales zu besichti­gen gibt. Allerd­ings kann man auch heute noch erah­nen, welche Ausstrahlung das Haus ein­mal hat­te. Im Park wurde die Skulp­tur »Han­ner­le« von Josef Tho­rak, die Haupt­mann 1942 zum 80. Geburt­stag geschenkt bekam, wieder aufgestellt — nach­dem sie Jahrzehnte im Freibad von Hirschberg über­dauert hat­te und dabei zwei Unter­arme ein­büßte.

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Lit­er­atur:

  • Wolf­gang de Bruyn; Antje Johan­ning: Ger­hart Haupt­mann und seine Häuser, Kuners­dorf 2007, S. 159–197
  • Ger­hart Haupt­mann: Buch der Lei­den­schaft, 2 Bde., Berlin 1930
  • Wal­ter Schmitz: Das Haus am Wiesen­stein. Cer­hart Haupt­manns dich­ter­isches Wohnen, Dres­den 2006
  • Peter Spren­gel: Ger­hart Haupt­mann. Bürg­er­lichkeit und großer Traum. Eine Biogra­phie, München 2012, S. 315–330
  • Felix A. Voigt: Ger­hart Haupt­mann der Schle­si­er, Goslar 1947