Also sprach Zarathustra — Friedrich Nietzsche, 1883–1885

In Also sprach Zarathus­tra stellt sich der Dichter, ja der Musik­er in Niet­zsche über den Philosophen. Und das hat dur­chaus Meth­ode. Denn Niet­zsches Denken ist das Denken des tief inspiri­erten Kün­stlers, der nach immer neuen For­men des Aus­drucks sucht. Und das, was Niet­zsche im Zarathus­tra zu sagen hat, ver­langt, weil es sich rein the­o­retisch kaum fassen läßt, nach einem hohen Ton, ver­langt nach Pathos. Es ver­langt nach einem eige­nen, inno­v­a­tiv­en Stil, wie er in Anlehnung an die Bibel­sprache Luthers auch tat­säch­lich erre­icht wurde. Das Buch ist keine Philoso­phie im klas­sis­chen Sinne, son­dern philosophis­che Dich­tung. Und als eben solche will es gele­sen wer­den.

Daraus erk­lären sich die ungewöhn­liche Form des Werkes und die Rolle des Propheten, der dort spricht. Es sind Niet­zsches große speku­la­tive Entwürfe und Leitideen, in die »Reden« Zarathus­tras gek­lei­det: die »Lehre« von der »ewigen Wiederkehr des Gle­ichen«, von der »Umw­er­tung aller Werte«, vom »Willen zur Macht«, und die vom »Über­men­schen«. Alles zusam­men ver­standen als »die höch­ste Formel der Bejahung, die über­haupt erre­icht wer­den kann«. Niet­zsche nan­nte den Text die »Vorhalle« sein­er Philoso­phie, durch die man treten müsse, um Zugang zu den anderen Werken zu find­en.

Zugle­ich ist der Zarathus­tra ein Buch der »azur­nen Ein­samkeit«, der schick­sal­haften Dis­tanz, die den nach »höheren Men­schen« suchen­den vom kleinen, gewöhn­lichen, vom »let­zten Men­schen« der wil­len­losen Herde tren­nt. Fol­glich ist es ein Buch des Ekels und der Aver­sion gegen den konkreten Men­schen angesichts der Wirk­lichkeit, die er darstellt: »Der Men­sch ist etwas, was über­wun­den wer­den will.« Alfred Bäum­ler hat deshalb vom Zarathus­tra als dem »Grund­buch der hero­is­chen Human­ität« gesprochen. In der Tat läßt sich auf jed­er Seite das große »Trotz­dem« vernehmen, das bald über das Mit­tel der Polemik, bald über das der Ironie, bald über das med­i­ta­tiv­er Lyrik eine ganz eigene Human­ität beschwört, deren Hero­is­mus eben darin beste­ht, daß zu ihrer Durch­set­zung der Men­sch buch­stäblich über sich hin­auswach­sen müßte, ihre ethis­chen Forderun­gen sich also an ein erst noch zu erwartendes Geschlecht richt­en. Dessen ist sich Zarathus­tra dur­chaus bewußt, weshalb bei allem, was er sagt, ein gewiss­er Zynis­mus mitschwingt.

Laut Niet­zsche ist es vor allem die christliche Gle­ich­heits- und Mitlei­dsmoral gewe­sen, die den Men­schen die Instink­t­sicher­heit in ethis­chen Fra­gen ger­aubt und zu ein­er Schwächung des Lebens geführt hat. Deshalb fordert Niet­zsche eine »Umw­er­tung« aller beste­hen­den Werte, was bedeutet, daß die Moral der »Starken« und »Gesun­den«, die von den »Schwachen« und »Kranken« für »böse« erk­lärt wor­den war, wieder umgekehrt als das »Gute« anerkan­nt wer­den soll. Zugle­ich plädiert er für eine »Liebe zum Schick­sal«, wonach der Men­sch das Leben als solch­es, d.h., mit allen seinen Widrigkeit­en auf sich nehmen soll. Nur wer die »ewige Wiederkehr«, also auch die des selb­st erfahre­nen Schmerzes, bedin­gungs­los akzep­tiert, hat das Zeug zum »Über­men­schen«. Fol­glich ist der »Über­men­sch« kein biol­o­gis­ches Zuch­tex­em­plar mit beson­deren (kör­per­lichen) Qual­itäten, son­dern ein Men­sch, der nicht daran verzweifelt, sich auf keine höhere Instanz wie Gott mehr berufen zu kön­nen: Sein eigen­er Wille genügt ihm, um sel­ber die Welt mit Sinn zu erfüllen.

Der Name Zarathus­tra leit­et sich von dem per­sis­chen Reli­gion­ss­tifter ab, der als erster dem Prinzip des Lebens den Dual­is­mus von »gut« und »böse« zugrunde gelegt haben soll — weshalb er bei Niet­zsche auch der erste sein muß, der mit dieser Kat­e­gorisierung gründlich bricht.

Niet­zsche läßt seinen Zarathus­tra aus der Ein­samkeit der Berge mehrmals zu den Men­schen ins Tal hin­ab­steigen, um diesen seine Weisheit­en zu lehren. Die Analo­gie zum Evan­geli­um ist gewollt und evi­dent. Nur predigt Zarathus­tra eben keine »Hin­ter­welt« oder gar ein kom­mendes Strafgericht, son­dern ver­langt, daß jed­er nur sich sel­ber fol­gt. Auf diesem Weg wird sich entschei­den, ob jemand über sich hin­aus will oder zur »großen Herde« zählt.

In sein­er iro­nisch-ver­bit­terten Bilanz Ecce homo (1888) sagt Niet­zsche über den Zarathus­tra, er habe »mit ihm der Men­schheit das größte Geschenk gemacht, das ihr bish­er gemacht wor­den ist. Dies Buch, mit ein­er Stimme über Jahrtausende hin­weg, ist nicht nur das höch­ste Buch, das es giebt, das eigentliche Höhen­luft-Buch – die ganze That­sache Men­sch liegt in unge­heur­er Ferne unter ihm –, es ist auch das tief­ste, das aus dem inner­sten Reichthum der Wahrheit her­aus geborene«. Nach­dem der Text zunächst qua­si unbeachtet blieb, ging von ihm in der ersten Rezep­tion­sphase Niet­zsches um 1900 eine kaum zu ermessende Wirkung aus. Durch die hohe Iden­ti­fika­tions­bere­itschaft, die der Zarathus­tra beson­ders unter den Vertretern des Sym­bol­is­mus, Expres­sion­is­mus, aber auch des frühen Exis­ten­tial­is­mus aus­löste, avancierte er zum leben­sphilosophis­chen Kult­buch für mehrere Gen­er­a­tio­nen.

– — –

Zitat:

Nicht, woher ihr kommt, mache euch fürder­hin eure Ehre, son­dern wohin ihr geht! Euer Wille und euer Fuß, der über euch selb­st hin­aus will, – das mache eure neue Ehre!

– — –

Aus­gabe:

  • Sämtliche Werke (Kri­tis­che Stu­di­en­aus­gabe), Bd. 4, München: dtv/de Gruyter 1980

– — –

Lit­er­atur:

  • Karl Jaspers: Niet­zsche. Ein­führung in das Ver­ständ­nis seines Philoso­phierens, Berlin 1936; Gilles Deleuze: Niet­zsche und die Philoso­phie, Ham­burg 2002