Paglia, Camille — Philosophin, geboren 1947

Camille Paglia, geboren am 2. April 1947, wuchs als Kind ein­er ital­ienis­chen Ein­wan­der­erfam­i­lie in New York auf, sie studierte in Yale und graduierte dort als Philosophin. Die erweit­erte Fas­sung ihrer Dis­ser­ta­tion lag 1981 vor. Es sollte ein Jahrzehnt verge­hen, bis sie einen Ver­lag für ihr Mam­mutwerk Sex­u­al per­son­ae (1990) fand. Darin läßt Paglia die Kul­tur- und Lit­er­aturgeschichte vom alten Ägypten bis ins 19. Jahrhun­dert unter den – aus ihrer Sicht bes­tim­menden – Vorze­ichen der Geschlech­ter­dif­ferenz antreten.

Kul­tur, so Paglias zen­trale These, entste­he im Wesentlichen durch Domes­tizierung von Sex­u­al­ität. Der Unter­schied zwis­chen Mann und Frau sei ein grund­sät­zlich­er und ewiger. „Dun­kle pagane Mächte“ bes­timmten die Sex­u­al­ität, und jene wiederum markiere durch die Zeit­en hin­durch die „heik­le Schnittstelle“ zwis­chen Natur und Kul­tur. Die west­liche Kul­turgeschichte sieht Paglia geprägt durch eine Konkur­renz zwis­chen hebräis­ch­er Wort- und hei­d­nis­ch­er Bild­sprache. Von Niet­zsches Philoso­phie bee­in­flußt sind die Gegen­satz­paare, aus deren stetigem Rin­gen sie sämtliche Kul­turleis­tun­gen ableit­et: Hier das Apollinis­che als gen­uin männlich­es (und west­lich­es) Prinzip, als Klarheit, Sprache, Struk­tur und Erfind­ungs­gabe zutage tre­tend, dort die dion­y­sis­chen Kräfte: das Erdge­bun­dene, Irra­tionale, Fließende, das weib­liche als „frucht­bar­er Urschlamm“. Kun­stschaf­fen und Tran­szen­denz entste­he allein aus männlich-apollinis­ch­er Abwehr der chthonis­chen Ver­lock­ung.

Nie­mand, auch nicht die gle­ich­sam „männlich“ sozial­isierte und auftre­tende Frau, könne let­ztlich aus sein­er, aus ihrer Haut. Die Geschlech­ter­dif­ferenz sei zwin­gend: „Wir kön­nen dem Leben in diesen faschis­tis­chen Kör­pern nicht ent­fliehen.“ Der mod­erne Men­sch ver­heim­liche sich gern, wie sehr er der Natur aus­geliefert ist. Ein „Schul­terzuck­en der Natur“ reiche, um das brüchige Gefüge der Zivil­i­sa­tion ein­stürzen zu lassen und atavis­tis­che Ver­hal­tensweisen zum Vorschein zu brin­gen.

Der weib­liche Kör­p­er, gle­ichgültig gegen den Geist, der ihn bewohnt, habe organ­isch nur eine Bes­tim­mung, „die Schwanger­schaft, deren Ver­hin­derung uns ein Leben lang beschäfti­gen kann. Die Natur küm­mert sich um die Gat­tung, nie um den einzel­nen“. Ihr eigenes „sex­uelles Ver­sagen“ hat die Les­bierin Paglia, die in fort­geschrit­ten­em Alter mit ihrer Lebens­ge­fährtin ein Kind adop­tierte, eingeräumt.

Paglia ist eine Kri­tik­erin Rousseaus, in dessen Gefolge eben­so der Milieuthe­o­rie. Die Dekon­struk­tivis­ten und Post­struk­tu­ral­is­ten haßt sie lei­den­schaftlich. Die bre­ite Wirkung, die Der­ri­da, Lacan, vor allem aber Fou­cault in akademis­chen Kreisen feierten, nen­nt Paglia ein krankes „Führer-Syn­drom“, „die Sehn­sucht ver­meintlich freier, lib­eraler Denker nach ein­er Autorität“. Der mod­erne Fem­i­nis­mus (Paglia spricht sich dur­chaus für eine for­male, poli­tis­che Gle­ich­stel­lung von Frauen aus) gilt ihr als eine Haupt­strö­mung, die den wirk­lichkeits­blind­en Mach­barkeits­glauben jen­er Vorväter beerbt hät­ten. Während Paglias Fokus der Natur (als „Schick­sal“) und ihren Geset­zen gilt, ist ihre Lei­den­schaft der Kun­st gewid­met, der kreativ­en Schaf­fen­skraft, dem also, was ihr als männlich­es Prinzip gilt: „Wäre die Zivil­i­sa­tion den Frauen über­lassen, säßen wir heute noch in Schil­fhüt­ten.“ Daß sie regelmäßig der Misog­y­nie bezichtigt wird, ficht sie nicht an. Sie beschreibe nur, was sie sehe, und vor Frauen, die sich selb­st ermächti­gen, ziehe sie den Hut. Keine Geset­zge­bung, kein Beschw­erde-Auss­chuß kön­nten an den Grund­tat­sachen geschlechtlich­er Bed­ingth­eit rüt­teln.

Paglias Ruhm in Deutsch­land währte kurz. Mitte der Neun­ziger Jahre wid­me­ten ihr bun­des­deutsche Leitme­di­en ein paar Schlagzeilen, danach verebbte die Aufmerk­samkeit. Für den akademis­chen Geschlech­ter­diskurs war sie ohne­hin undiskutabel. Mit ihrem behar­rlichen Rekurs auf das Kör­per­liche als das Maß der Dinge, ihrem Behar­ren auf dem uner­bit­tlichen „Faschis­mus der Natur“ hat sich Paglia bisweilen den Schmähruf ein­er Biol­o­gistin einge­han­delt.

Die Frau, die Verge­wal­ti­gun­gen erk­lär­bar machen wollte, Pornogra­phie als urmännlich­es Bedürf­nis ver­ste­ht, Männlichkeit aufs eng­ste mit Homo­sex­u­al­ität verknüpft sieht, die Todesstrafe befür­wortet und sich genau­so unmißver­ständlich für ein Recht auf Abtrei­bung ein­set­zt, wie sie das­selbe als „Mord“ und ewiges „Recht des Stärk­eren“ beze­ich­net, gilt sowohl Bürg­er­lichen als auch Fem­i­nistin­nen als zynis­ches Schreck­ge­spenst – was dur­chaus auf Gegen­seit­igkeit beruht. In den USA reüssiert sie bis heute als stre­it­bar­er Gast in Talk­shows, klein und zier­lich, augen­rol­lend und — intellek­tuell stets elo­quent — Wortkaskaden auftür­mend.

Paglia, seit 1984 als Pro­fes­sorin für Medi­en- und Geis­teswis­senschaften in Philadel­phia lehrend, und dabei die gesamte abendländis­che Geis­tes­geschichte griff­bere­it im Marschgepäck vorhal­tend, scheut sich nicht vor den Niederun­gen des Triv­ialen. Über Pop-Phänomene wie Madon­na und Lady Gaga hat sie sich aus­führlich abgear­beit­et, in ihren Glossen und Artikeln in diversen amerikanis­chen Mag­a­zi­nen kom­men­tiert sie bis heute das Geschehen auf dem Boule­vard. Sie sieht sich als provozierende Ver­mit­t­lerin zwis­chen der welt­frem­den linken, nach wie vor von Marx­is­mus und Frank­furter Schule bee­in­flußten Welt der Uni­ver­sitäten ein­er­seits und den Massen­me­di­en ander­er­seits, wo das Herz des Volkes schlage.

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Zitat:

Sex­uelle Frei­heit, Befreiung der Sex­u­al­ität: Das sind mod­erne Illu­sio­nen. Wir eine Ran­gord­nung wegge­fegt, tritt so gle­ich eine andere an ihre Stelle, die vielle­icht rigider ist als die erste.

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Schriften:

  • Sex­u­al Per­son­ae. Art and Deca­dence form Nefer­ti­ti to Emi­ly Dick­in­son, Lon­don e.a. 1990, dt.: Die Masken der Sex­u­al­ität, Berlin 1992
  • Sex, Art, and Amer­i­can cul­ture. Essays New York 1992, dt.: Der Krieg der Geschlechter. Sex, Kun­st und Medi­enkul­tur, Berlin 1993

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Lit­er­atur:

  • Kositza, Ellen: Autoren­por­trait Camille Paglia, in Sezes­sion 36 (2010)
  • Lichtmesz, Mar­tin: Sex, Gewalt und ewiger Krieg. Die amerikanis­che Radikalfem­i­nistin Camille Paglia, in: Zwielicht 2(2007)