Die politischen Religionen — Eric Voegelin, 1938

Mit seinem Essay über die poli­tis­chen Reli­gio­nen schließt die erste Werkphase Eric Voegelins vor der Emi­gra­tion aus Europa ab. Das Buch kam ger­ade frisch aus der Druck­erei, als Öster­re­ich von den Nation­al­sozial­is­ten beset­zt wurde; es wurde beschlagnahmt und gelangte daher nicht an die Öffentlichkeit. Der Ver­such, die poli­tis­chen Phänomene der Zeit im Zusam­men­hang ihrer religiösen bzw. reli­gion­s­geschichtlichen Rolle zu deuten, ist für Voegelin bere­its eine Stel­lung­nahme gegen die Haupt­strö­mung des Denkens sein­er Zeit. Denn es kam ihm in dieser Schrift darauf an, »die religiöse Grund­frage unser­er Zeit zu erörtern und das Phänomen des Bösen, das bekämpft wer­den soll, zu beschreiben«.

Die religiöse Betra­ch­tung, um die es Voegelin geht, sieht die poli­tis­che Reli­gion (wie auch die gnos­tizis­tis­che Reli­gion) als Per­ver­sion der Reli­gion, etwa des Chris­ten­tums, an. Für Voegelin ist evi­dent, daß eine Betra­ch­tung des Nation­al­sozial­is­mus unter religiösen Gesicht­spunk­ten von der Annahme aus­ge­hen darf, daß es Bös­es in der Welt gibt. Bös­es wird hier ver­standen als »echte, in der Welt wirk­same Sub­stanz und Kraft«, nicht lediglich als Fehlform des Guten.

Voegelin behan­delt in seinem schmalen Buch ver­schiedene For­men dessen, was er unter poli­tis­ch­er Reli­gion ver­ste­ht – das Spek­trum reicht von der Reform des ägyp­tis­chen Son­nenglaubens unter Ech­na­ton, über die mit­te­lal­ter­lichen The­o­rien des Augusti­nus und der Scholastik über geistliche und weltliche Macht, bis zu Hobbes’€™ Leviathan und bes­timmten Sym­bol­is­men des Nation­al­sozial­is­mus und des ital­ienis­chen Faschis­mus als inner­weltlichen Gemein­schaften.

Voegelin ver­stand sich als Geg­n­er jed­er Art von poli­tis­chem Kollek­tivis­mus, wollte aber sein Buch nicht als das eines poli­tisieren­den Intellek­tuellen ver­standen wis­sen, der nur poli­tisierende Ergüsse gegen den Nation­al­sozial­is­mus pro­duzierte. Vielmehr kam es ihm darauf an, das Wesentliche nicht aus den Augen zu ver­lieren, das er in der – wenn auch per­vertierten – religiösen Sub­stanz des Nation­al­sozial­is­mus erblick­te.

Voegelins Konzept der poli­tis­chen Reli­gio­nen ist in der Total­i­taris­mus­forschung umstrit­ten; es fand vor allem bei der Analyse der nation­al­sozial­is­tis­chen Ide­olo­gie Ver­wen­dung. Mit dem Aufkom­men poli­tisch-the­ol­o­gis­ch­er Radikalis­men in neuester Zeit zeigt sich auch der fort­dauernde Wert und das Anre­gungspo­ten­tial des Voegelin­schen Denkansatzes. Denn für Voegelin war die religiöse Frage keineswegs tabu; vielmehr galt es, »sie ern­sthaft und radikal aufzuw­er­fen«. Darin ist Voegelins kleine Schrift auch heute noch maßgebend, auch wenn er selb­st später den Begriff der poli­tis­chen Reli­gion auf­gab und durch andere Konzepte (Gno­sis, Pneu­mopatholo­gie) erset­zte. Eine Fort­führung der Über­legun­gen aus Die poli­tis­chen Reli­gio­nen find­et sich in den Tex­ten des Ban­des mit dem Titel Der Gottes­mord. Zur Genese und Gestalt der mod­er­nen poli­tis­chen Gno­sis (1999).

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Zitat:

Es ist grauen­haft, immer wieder zu hören, daß der Nation­al­sozial­is­mus ein Rück­fall in die Bar­barei, in das dun­kle Mit­te­lal­ter, in Zeit­en vor dem neueren Fortschritt zur Human­ität sei, ohne daß die Sprech­er ahnen, daß die Säku­lar­isierung des Lebens, welche die Human­ität­sidee mit sich führte, eben der Boden ist, auf dem antichristliche religiöse Bewe­gun­gen wie der Nation­al­sozial­is­mus erst aufwach­sen kon­nten.

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Aus­gabe:

  • Mit einem Nach­wort von Peter J. Opitz, Paderborn/München: Fink 2007

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Lit­er­atur:

  • Har­ald Berg­bauer: Eric Voegelins Kri­tik an der Mod­erne, Würzburg 2000
  • Hans Maier: Total­i­taris­mus und Poli­tis­che Reli­gio­nen, Bd. III: Deu­tungs­geschichte und The­o­rie, Pader­born 2003