Die Wahrheit des Mythos — Kurt Hübner, 1985

In den achtziger Jahren des let­zten Jahrhun­derts neigte sich die »zweite Aufk­lärung « (Jür­gen Haber­mas) dem Ende zu, und es ent­stand – noch vor dem Siegeszug der Post­mod­erne – ein neues Inter­esse am Mythos. Viel davon war im Wortsinn »irra­tional «, unver­dautes, hal­b­ver­standenes Zeug, Nos­tal­gie, New Age, Spin­nerei, aber es gab auch ern­stzunehmendes Bemühen, das Wesen des Mythos zu begreifen, die Frage nach sein­er grund­sät­zlichen Bedeu­tung d.h. nach sein­er »Wahrheit« zu stellen.

Die wichtig­ste Arbeit, die in diesem Zusam­men­hang geleis­tet wurde, ist dem Kiel­er Philoso­phiepro­fes­sor Kurt Hüb­n­er zu ver­danken. Hüb­n­er hat­te sich vor allem mit der Philoso­phie der Natur­wis­senschaft auseinan­derge­set­zt und insofern eine intime Ken­nt­nis math­e­ma­tis­ch­er und physikalis­ch­er Ver­fahren und Erken­nt­nisweisen gewon­nen. Das feite ihn vor ein­er allzu raschen und unbe­grün­de­ten Parteinahme für den Mythos. Allerd­ings hielt er auch nichts von der Idee, daß die geistige Entwick­lung der (europäis­chen) Men­schheit der Ein­bahn­straße »vom Mythos zum Logos «, die jede Bezug­nahme auf den Mythos als sinns­tif­tende Erzäh­lung zer­stört, fol­gen mußte und weit­er fol­gen werde.

Hüb­n­ers War­nung vor unbe­dacht­en »Aus­bruchsver­suchen« aus der entza­uberten Welt war vor allem in dem Wis­sen begrün­det, daß der mod­erne Men­sch nicht in den geschlosse­nen mythis­chen Kos­mos der Ver­gan­gen­heit zurück­kehren kann. Der war von ein­er vol­lkom­men anderen Welt­sicht und Wel­terk­lärung bes­timmt, die dur­chaus auf Fol­gerichtigkeit des – mythis­chen – Denkens beruhte, das sich von dem der Mod­erne wohl in bezug auf die Axiome und das Erken­nt­nis­in­ter­esse unter­schied, aber nicht im Hin­blick darauf, die Welt zu ver­ste­hen und zu ord­nen, in Teilen auch, sich nutzbar zu machen. Wenn also von Hüb­n­er her­vorge­hoben wurde, daß die mythis­che Dasein­sor­d­nung für uns nicht wiederzugewin­nen ist, dann betonte er doch, daß der Mythos insofern eine ewige Bedeu­tung hat, als diese Art der Erzäh­lung allein dem Men­schen Auf­schluß liefert über die entschei­den­den Sin­n­fra­gen. Denn diese haben der Fortschritt der Natur­wis­senschaft und der Tech­nik wed­er beant­worten kön­nen noch ver­s­tum­men lassen.

Das, so Hüb­n­er, erk­lärt den dauern­den Rekurs der bilden­den Kun­st, der Musik und der Lit­er­atur auf den Mythos, während die The­olo­gie – vor allem die protes­tantis­che – seit dem 19. Jahrhun­dert der irri­gen Ver­heißung gefol­gt ist, es müsse eine »Ent­mythisierung« oder »Ent­mythol­o­gisierung« stat­tfind­en, die ent­ge­gen ihrer Inten­tion nicht nur die äußere Hülle des Glaubens angreift, son­dern dessen Kern zer­stört. Von der The­olo­gie ist der Schritt nicht weit zur Poli­tis­chen The­olo­gie, insofern als auch der Staat des Mythos bedarf, um jenen »Legit­im­itäts­glauben« (Max Weber) zu erzeu­gen, der für sein Funk­tion­ieren auf Dauer unab­d­ing­bar ist.

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Zitat:

Aber wenn vor­ange­gan­gene Erfahrun­gen nicht gän­zlich wieder vergessen wer­den kön­nen, so läßt sich für die Zukun­ft nur eine Kul­tur­form vorstellen, in der Wis­senschaft und Mythos wed­er einan­der unter­drück­en noch unver­bun­den nebeneinan­der­her beste­hen, son­dern in eine durch das Leben und das Denken ver­mit­telte Beziehung zueinan­der treten. Wie das aber möglich sein soll, davon wis­sen wir heute noch nichts.

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Aus­gabe:

  • Freiburg i. Br.: Alber 2009

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Lit­er­atur:

  • Karl­heinz Weiß­mann: Autoren­por­trait Kurt Hüb­n­er, in: Sezes­sion (2007), Heft 18