Postdemokratie

Post­demokratie beze­ich­net eine poli­tis­che Ord­nung, die nach dem Ende des »demokratis­chen Zeital­ters« entste­hen kön­nte. Entsprechende Prog­nosen – von The­o­rien zu sprechen wäre über­zo­gen – ent­standen in den 1990er Jahren als Reak­tion auf den Überop­ti­mis­mus der­jeni­gen, die mit dem »Ende der Geschichte« auch die Erwartung eines defin­i­tiv­en, glob­alen Über­gangs zu Demokratie und Mark­twirtschaft verknüpften. Die Annahme ein­er kom­menden Post­demokratie geht stattdessen davon aus, daß die großen geschichtlichen Bewe­gun­gen, vor allem Glob­al­isierung ein­er­seits, Frag­men­tierung der mod­er­nen Gesellschaften ander­er­seits, zur Zer­störung der Funk­tions­be­din­gun­gen ein­er Demokratie führen.

Im wesentlichen lassen sich drei Inter­pre­ta­tio­nen voneinan­der unter­schei­den:

1. Die Nos­tal­gik­er set­zen im Grunde die Lin­ie der linken Kap­i­tal­is­muskri­tik fort, die eine »wahre« Demokratie unter den Bedin­gun­gen des Pri­vatbe­sitzes an Pro­duk­tion­s­mit­tel für unmöglich hält und mit dem Erfolg des »Neolib­er­al­is­mus« das Ende der Demokratie über­haupt für möglich (Jacques Ran­ciére) oder unauswe­ich­lich (Col­in Crouch) hält.
2. Die Real­is­ten gehen davon aus, daß Demokratie in ein­er Mas­sen­ge­sellschaft sowieso nie etwas anderes ist als ein mehr oder weniger gut aus­bal­anciertes oli­garchis­ches Sys­tem, das als »demokratis­che Fürsten­herrschaft« (Dani­lo Zolo) gekennze­ich­net wer­den kann und in Zukun­ft die Illu­sio­nen über jede weit­erge­hende Demokratisierung abbauen und sich ganz auf die Sich­er­stel­lung der eige­nen Funk­tion­stüchtigkeit konzen­tri­eren wird (Jean-Marie Guéhen­no).
3. Die Apoka­lyp­tik­er eracht­en den Unter­gang der Demokratie west­lich­er Prä­gung nicht nur für zwangsläu­fig, son­dern auch für wün­schenswert, da die Demokratie untauglich zur Bewäl­ti­gung der Auf­gaben sei, die das Infor­ma­tion­szeital­ter stelle; als »Sys­tem von Ver­lier­ern« (Ian Angell) diene es bloß dazu, mit sen­ti­men­tal­en The­o­rien die Wirk­lichkeit zu kaschieren, die bloß eine Konkur­renz ver­schieden­er Sys­teme um – materielle und imma­terielle – Ressourcen kenne.

So zutr­e­f­fend viele Beobach­tun­gen im Zusam­men­hang mit dem Par­a­dig­ma »Post­demokratie« wirken mögen, muß man doch fest­stellen, daß hier das eigentlich poli­tis­che Ele­ment drama­tisch unter­schätzt wird. Das wirkt sich vor allem in zwei Rich­tun­gen aus: die Unbe­sorgth­eit angesichts des Zer­falls der Staatlichkeit und die Igno­ranz gegenüber der Frage, wie sich eigentlich Herrschaft im post­demokratis­chen Zeital­ter begrün­den lassen soll, wenn gar keine Möglichkeit beste­ht, den »Legit­im­itäts­glauben« (Max Weber) zu kon­sti­tu­ieren.

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Zitate:

Ein­er­seits ist es in der Tat der Prozeß der Dif­feren­zierung, der die demokratis­che Führung der kom­plex­en Gesellschaften unwahrschein­lich macht … Ander­er­seits ist es die größere Ver­wund­barkeit der Infor­ma­tion­s­ge­sellschaften, die immer drastis­chere und heimtück­ischere For­men der Ver­min­derung gesellschaftlich­er Kom­plex­ität erfordert, bis hin zur äußer­sten Gren­ze der sub­lim­i­nalen Überre­dung, welche die Massenkom­mu­nika­tion­s­mit­tel gefördert haben.
Dani­lo Zolo

Die Demokratie ist … speziell nicht in der Lage, mit den neuen Bedin­gun­gen der Weltwirtschaft umzuge­hen. Die jüdisch-christliche Moral war ide­al für die Wirtschaft des Indus­triezeital­ters, weil sie ein Zusam­menge­hörigkeits­ge­fühl ver­lieh und für Loy­al­ität sorgte. Die Voraus­set­zung ist im Infor­ma­tion­szeital­ter nicht mehr erforder­lich … Loy­al­ität gegenüber einem Staat oder ein­er »Gesellschaft« ist der Wirtschaft hin­der­lich.
Ian Angell

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Lit­er­atur:

  • Ian Angell: The New Bar­bar­ian Man­i­festo. How to Sur­vive the Infor­ma­tion Age, Lon­don 2000
  • Col­in Crouch: Post­demokratie, Frank­furt a. M. 2008
  • Karl­heinz Weiß­mann: Post-Demokratie, Kaplak­en, Bd 15, Schnell­ro­da 2009
  • Dani­lo Zolo: Die demokratis­che Fürsten­herrschaft. Für eine real­is­tis­che The­o­rie der Poli­tik, Göt­tin­gen 1997