Quedlinburg — nördlicher Harz, an der Bode

Wer heute am Finken­herd in Quedlin­burg ste­ht und an ein­er Stadt­führung teil­nimmt, wird fast zwangsläu­fig zu hören bekom­men, daß dieser Ort wenig mit der Erhe­bung Hein­richs von Sach­sen zum deutschen König zu tun habe. Und es genügt dem dekon­struk­tivis­tis­chen Zeit­geist nicht, den Inhalt der ein­st­mals berühmten Bal­lade »Herr Hein­rich saß am Vogel­herd« von Johann Nepo­muk Vogl in Zweifel zu ziehen, man wird gle­ich auch noch darauf hingewiesen, daß es Anfang des 10. Jahrhun­derts gar keine »Deutschen« und mithin kein »Deutsches Reich« gegeben
habe und daß über­haupt die Vorstel­lung von Natio­nen im Mit­te­lal­ter anachro­nis­tisch sei.

Nun ist tat­säch­lich eine gewisse Skep­sis gegenüber der His­tor­iz­ität der Szene ange­bracht, in der die Abge­sandten des ster­ben­den, glück­losen Kon­rad Her­zog Hein­rich die Königswürde antru­gen
und ihn aus­gerech­net bei sein­er Lieblings­beschäf­ti­gung – der Vogel­jagd – trafen. Aber unbe­stre­it­bar ist die Bedeu­tung, die Quedlin­burg unter sein­er Herrschaft als wichtig­ster Königssitz gewann. Für zwei Jahrhun­derte feierte der Hof hier jedes Jahr das Oster­fest. Quedlin­burg war ein­er der zen­tralen Orte ottonis­ch­er und salis­ch­er Herrschaft. Die heute auf dem Schloßberg ste­hende Kirche St. Ser­vatius gehört zu den wichtig­sten hochro­man­is­chen Baut­en Deutsch­lands. Allerd­ings sind nur in der Kryp­ta Reste jenes Vorgänger­baus erhal­ten, der auf Anweisung Mathildes, der Frau Hein­richs, errichtet wurde. Aber trotz der fast voll­ständi­gen Erneuerung im 11. Jahrhun­dert und der späteren Erweiterun­gen und Umbaut­en atmet die Basi­li­ka bis heute den Geist ein­er roman­is­chen Königskirche. Das gilt nicht zulet­zt für die archais­che Orna­men­tik der Pfeil­er, Säulen und Friese, an denen vor allem die Adler­fig­uren auf­fall­en.

Hein­rich hat­te ver­fügt, daß er in Quedlin­burg bestat­tet sein wollte. Unmit­tel­bar nach seinem Tod im Jahr 936 wurde der Leich­nam des Königs von Mem­leben nach Quedlin­burg über­führt. Damals standen auf dem Burg­berg schon Klosterge­bäude, wahrschein­lich von erhe­blich­er Größe und Repräsen­ta­tiv­ität, um den Hof­s­taat aufnehmen zu kön­nen, und in der Gruft der Pfalzkirche wurde der König beige­set­zt. Die Witwe, Köni­gin Mathilde, ließ sich von ihrem Sohn Otto I. (žAachen, Lech­feld) die Grün­dung eines Damen­stifts genehmi­gen, dessen Auf­gabe das Totenge­denken für den ver­stor­be­nen König, aber auch die Für­bitte für König, dann Kaiser, und Reich war. 968 set­zte man sie neben ihrem Mann bei.

Erst nach dem Ende der säch­sis­chen Dynas­tie ver­lor Quedlin­burg an Bedeu­tung, spielte aber durch das der Stadt ver­liehene Markt‑, Münz- und Zoll­recht noch eine gewisse, wen­ngle­ich region­al begren­zte Rolle. Von dem ursprünglichen Glanz hat sich indes wenig erhal­ten, und ein neues – patri­o­tisch gefärbtes Inter­esse – fand Quedlin­burg erst wieder im 19. Jahrhun­dert. Die ein­gangs erwäh­nte Dich­tung Vogls ist schon getra­gen von diesem Geist und der Nei­gung, in Hein­rich I. einen Vorkämpfer des nationalen Inter­ess­es zu sehen, das sich auf den Osten und nicht wie in der stau­fis­chen Zeit auf den Süden richtete.

Eine Vorstel­lung, die in der NS-Zeit eine Zus­pitzung und spez­i­fis­che Umdeu­tung erlebte, die sich vor allem aus dem Kult erk­lärt, den die SS um Hein­rich I. betrieb, der abwech­sel­nd als »Volk­skönig« und als »Slawen­bezwinger« gefeiert wurde. Manch­es spricht für die Annahme, daß Himm­ler sich als dessen Reinkar­na­tion betra­chtete und jeden­falls alles tat, um die Stift­skirche
und die Wiper­tikryp­ta mit den Gebeinen des Königs unter seine Kon­trolle zu brin­gen. Tat­säch­lich ließ er Kryp­ta und Kirche (ähn­lich wie den Braun­schweiger Dom) in eine »Wei­h­estätte« der SS umfor­men, alle christlichen Ele­mente ent­fer­nen und auch gewisse bauliche Verän­derun­gen vornehmen. Bis zum Som­mer 1944 erschien der »Reichs­führer SS« per­sön­lich bei den jährlichen Feiern zum Todestag des Königs – dem 2. Juli – in Quedlin­burg.

Es ist allerd­ings darauf hinzuweisen, daß nicht ein­mal in der NS-Zeit solch­er Zugriff ohne Wider­spruch blieb. Schon 1934, zwei Jahre vor der von Himm­ler mit großem Aufwand insze­nierten Feier aus Anlaß von Hein­richs 1000. Todestag, hat­te der Dichter Rein­hold Schnei­der in den monar­chis­tis­chen Weißen Blät­tern einen Auf­satz mit dem Titel »Quedlin­burg« veröf­fentlicht, in dem er die Deutschen auf­forderte, die Stift­skirche als Sym­bol für die Ein­heit von Reichs­gedanken und christlichem Glauben anzuse­hen und bis auf weit­eres in der »Kryp­ta des Reich­es« zu über­dauern, eine Anspielung darauf, daß mit der Wiper­tikryp­ta der älteste Teil des roman­is­chen Baus erhal­ten blieb, während sich die äußere Gestalt der Stift­skirche fortwährend verän­derte.

Ent­ge­gen ein­er Wahrnehmung, welche die his­torischen Zen­tren Deutsch­lands vor allem im West­en oder im Osten sucht, ist darauf hinzuweisen, daß ursprünglich das Kern­land des Reich­es in der Mitte lag. Das erk­lärt auch, warum auf dem Gebi­et des Harzes und sein­er Rän­der (žžKyffhäuser) bis heute eine Rei­he his­torisch­er Stät­ten zu find­en ist, die – auch durch die Teilung – fast voll­ständig in Vergessen­heit geri­eten, obwohl sie eine entschei­dende Rolle für die nationale Geschichte gespielt haben. Wenn Quedlin­burg seit 1994 zum »Weltkul­turerbe« der UNESCO gehört, darf man das auch als Anerken­nung dieses Sachver­halts betra­cht­en. Jeden­falls erschöpft sich seine Bedeu­tung nicht darin, ein touris­tisch anziehen­des pit­toreskes Fach­w­erk­städtchen mit Kopf­steinpflaster und erhal­tener Stadt­mauer zu sein.

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Lit­er­atur:

  • Rein­hold Schnei­der: Quedlin­burg, in: Weiße Blät­ter 2 (1934), S. 241–246, wieder abge­druckt in: Rein­hold Schnei­der: Gesam­melte Werke, Bd. 7, Frank­furt a. M. 1980
  • Klaus Voigtlän­der: Die Stift­skirche zu Quedlin­burg, Berlin (Ost) 1989