Weimar

Weimar ist in kul­tureller und ver­fas­sung­shis­torisch­er Per­spek­tive die Schick­salsstadt der Deutschen schlechthin. Ihr ver­danken wir die men­tal­en Erken­nungsze­ichen als Deutsche in der Welt. – Sie, die kleine – seit der Ref­or­ma­tion – kursäch­sis­che Res­i­denz der Herzöge von Sach­sen-Weimar, ist der Inbe­griff Deutsch­er Klas­sik.

Es war dem schar­fen Emi­granten­ver­stand der Anne Ger­maine de Stael zu ver­danken, daß erst­mals (1813) europaweit ver­bre­it­et wurde, das mit Weimar »Deutsch­land eine lit­er­arisch-gelehrte
Haupt­stadt« aufzuweisen habe. Und als Goethe Johann Peter Eck­er­mann für sein Haus am Frauen­plan zu gewin­nen hoffte, da macht er ihm (am 15. Sep­tem­ber 1823) die Stadt so schmack­haft: »Es ist in Weimar noch viel Gutes beisam­men, und Sie wer­den nach und nach in den höhren Kreisen eine Gesellschaft find­en, die den besten aller großen Städte gle­ichkommt.« Die Stadt an der Ilm ist, wie Goethe sie sieht:

Wie Beth­le­hem in Juda, klein und groß.
Bald wegen Geist und Witz beruft dich weit
Europens Mund, bald wegen Albern­heit.
Der stille Weise schaut und sieht geschwind,
Wie zwei Extreme nah ver­schwis­tert sind.

Mit dieser so erfahre­nen Denk- und Lebens­form von Weimar wird neu das Klas­sis­che als eine Kul­tur des Offe­nen, Nichtabgeschlosse­nen und Para­dox­en erfaßbar; es ist nicht mehr länger ein nor­ma­tives Abstrak­tum »nachah­mender Hörigkeit« (Ernst Bertram). Damit wird die Dif­ferenz von lebendi­ger Deutsch­er Klas­sik und abstrak­tem Klas­sizis­mus (gle­ich welch­er Couleur) konzep­tu­al­isier­bar. Während Deutsche Klas­sik die facetten­re­iche Pas­sion­snatur des Men­schen als Unab­schließbares und Tragis­ches, damit Hochwider­sprüch­lich­es the­ma­tisiert, hält Klas­sizis­mus dem Men­schen ein »ewiges« Maß des »Guten«, »Wahren« und »Schö­nen« vor.

Aber es wird so mit Weimar nicht nur neu das Klas­sis­che, son­dern auch neu das Deutsche als ein Ganzes, als ein Grün­den­des emblema­tisch begreif­bar – und zwar jen­seits region­alkundlich­er, poli­tis­ch­er und zei­this­torisch­er Befunde oder Eige­narten, die sich als empirische keinem All­ge­mein­be­griff beque­men wür­den. Das ist ver­bun­den mit der durch die Weimar­er Klas­sik entwick­el­ten Idee von Weltlit­er­atur. Dies wird hier zudem noch von Wielands Welt­bürg­er­tum und von Herders Men­schheits­glaube formbes­tim­mend flankiert. Damit wird nicht mehr länger eine beson­dere (»mod­erne«, wom­öglich europäis­che) Nation­al­lit­er­atur norm­set­zend pro­te­giert, aber auch kein »übervölkisches See­len­re­ich« (Friedrich Gun­dolf) imag­iniert. Damit kann neu das Deutsche – wie der Goethesche Dämon – jet­zt begrif­f­en wer­den als »geprägte Form, die lebend sich entwick­elt«.

Deutsch-Sein wird von nun an, von Weimar her, nicht mehr so sehr lim­i­tierend als »völkisches« Attrib­ut ver­standen, son­dern gewis­ser­maßen »kat­alytisch«, als Ermöglichungs­be­din­gung, als – gut kan­tian­isch – das Tran­szen­den­tale, mit dem Erweiterun­gen, Kreatio­nen, Grün­dun­gen, Ver­schmelzun­gen (denkerisch, kün­st­lerisch, religiös, poli­tisch) nach allen Seit­en hin als Vernün­ftiges, Zumut­bares, Aus­ge­wo­genes prak­tisch wer­den kön­nen. – Kurzum: Wenn Goethe also sagt, »bin Welt­be­wohn­er, bin Weimaran­er«, so wird exem­plar­isch hier eine urbane Beson­der­heit als geistige iden­ti­fizier­bar, die sozusagen syn­thetisierend – wie son­st nur noch Königs­berg – in vor­bildlich­er Weise all­ge­mein »sowohl der Erweiterung der Men­schenken­nt­niß als auch der Weltken­nt­niß« (Immanuel Kant) förder­lich ist.

Weimar verkör­pert damit als seel­is­che Land­schaft des Deutschen dessen inte­gra­tive Poten­zen als etwas Beson­deres seines Nation­alcharak­ters. Als Name ver­bürgt sich Weimar dann sozusagen als sym­bol­is­che Form des Geheimen Deutsch­land (Ste­fan George). Ger­ade darauf grün­det sich eine zen­trale spir­ituelle Nor­ma­tiv­ität, gegen die jede zufäl­lige, empirisch-his­torische Fak­tiz­ität (etwa aus der Weimar­er Zeit­geschichte) als Bes­tim­mungs­grund von Weimar, gar des Deutschen, zufäl­lig und asym­metrisch bliebe.

Und es ist in diesem Sinne wahrschein­lich eine orig­inär Weimar-deutsche Zukun­ft­sauf­gabe, jenes – seit Goethe bedacht­en – Ver­hält­nis von Nationalem und Über­na­tionalem denkerisch wie poli­tisch neu aus­bal­ancieren, ja sog­ar eine ganz andere, alle bish­eri­gen Par­a­dig­men hin­ter sich lassende – »welt­bürg­er­liche« – Form dafür kon­stru­ieren zu müssen. Mithin nicht auf das eine oder das andere zu set­zen, sich nicht mehr der schmer­zlichen Diskon­ti­nu­ität deutsch­er Geschichte ohne weit­eres anheimzugeben, son­dern begreifen zu ler­nen, daß »das Vater­land nir­gends und über­all« (Goethe) ist. So soll­ten wir Deutsche – weimar­ver­bun­den – über­legen (das geben uns schon die Xenien zu bedenken), wie aus (vorder­gründi­ger) nationaler Not eine antipoli­tis­che Tugend zu machen wäre, denn:

Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es,
Deutsche, vergebens;
Bildet, ihr kön­nt es,
dafür freier zu Men­schen euch aus.

Damit sind wir durch Weimar aufge­fordert, als Bürg­er den Gedanken der je (natür­lich) beson­deren Zuge­hörigkeit als Selb­stver­ständlichkeit voraus­ge­set­zt, darauf auf­bauend und wei­t­er­denk­end, aber als Men­schen – ohne von ihrer Herkun­ft zu lassen – zu ein­er neuen geisti­gen Ein­stel­lung zu gelan­gen, die – wie uns mit­ten im Welt­bürg­erkrieg Ernst Jünger (žWil­flin­gen) zu bedenken gab – darin beste­hen kön­nte, das »Feuer in sich selb­st zu löschen und sich zunächst im Eige­nen vom Haß und sein­er Spal­tung zu lösen«.

Schon daran wäre erkennbar: Weimar ist natür­lich nicht, wie der Euphemis­mus Ilm-Athen ver­muten lassen kön­nte, als ein geschicht­sen­thoben­er Par­naß oder als »Kein Reich von dieser Welt« mißzu­ver­ste­hen, son­dern, da alles »was gross ist im Sinn der Cul­tur … selb­st antipoli­tisch ist« (Friedrich Niet­zsche), es wer­den mit Weimar im Hier und Heute, als Forderung des Tages, ganz neue Denk- und Gesel­ligkeitsper­spek­tiv­en eröffnet. Insofern ist Weimar, wie Goethe sel­ber (1823 im Gespräch mit Graf A. G. Stroganoff) bekun­dete, ein Tri­umph des Rein­men­schlichen.

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Lit­er­atur:

  • Ernst Bertram: Das Zed­ernz­im­mer. Weimar­er Erin­nerun­gen, Wies­baden 1957
  • Die große Stadt. Das kul­turhis­torische Archiv von Weimar-Jena, Viertel­jahress­chrift, Jena 2008ff.
  • Erwin Gui­do Kol­ben­hey­er: Goethes Welt­bürg­er­tum und die inter­na­tionale Geistigkeit. Weimar­er Rede zum 100. Todestag Goethes 1932, in: Goethe. N.F. des Jahrbuchs, 3 (1938), S. 226f.
  • Joseph Rück­ert: Bemerkun­gen über Weimar 1799, hrsg. v. Eber­hard Haufe, Weimar 1969
  • Adel­heid von Schorn: Das nachk­las­sis­che Weimar, Weimar 1911
  • Rudolf Wust­mann: Weimar und Deutsch­land 1815–1915, Weimar 1915