Zur Genealogie der Moral — Friedrich Nietzsche, 1887

Auf die Frage, was man zuerst von ihm lesen solle, nan­nte Niet­zsche Jen­seits von Gut und Böse (1885) und Zur Genealo­gie der Moral (1887). Tat­säch­lich enthält die Genealo­gie, die Niet­zsche dem Buch von 1885 »zur Ergänzung und Verdeut­lichung beigegeben« hat, alle wesentlichen Momente seines Denkens: die Analyse der moralis­chen Hin­ter­gründe gegen­wär­tiger Kul­tur, die Antithese von der »Her­ren-« und »Sklaven­moral«, eine »Psy­cholo­gie des Chris­ten­tums«, ver­bun­den mit der Frage, worauf sich »die Macht des asketis­chen Ideals« gründe, eine »Umw­er­tung« der beste­hen­den Werte. Fern­er wird nach den Bedin­gun­gen für die moralis­chen Urteile »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht«, »Schuld« und »Schlecht­es Gewis­sen« gefragt sowie die Behaup­tung aufgestellt, daß das Lei­den anzunehmen ist, da es unweiger­lich zum Leben gehört.

Bei sein­er Inter­pre­ta­tion der Begriffe »Her­ren-« und »Sklaven­moral« rückt Niet­zsche die Bedeu­tung des Ressen­ti­ments ins Zen­trum. Als Ressen­ti­ment beze­ich­net er den Klein­mut und das verneinende Prinzip der »Her­den­na­turen«, die aus Haß gegen alle Wohlger­ate­nen und »Vornehmen« diese für »böse« erk­lären und ihnen ein schlecht­es Gewis­sen einre­den wollen. »Während alle vornehme Moral aus einem tri­umphiren­den Ja-sagen zu sich sel­ber her­auswächst, sagt die Sklaven-Moral von vorn­here­in Nein zu einem “Ausser­halb”, zu einem “Anders”, zu einem
“Nicht-selb­st”: und dies Nein ist ihre schöpferische That.« Ober­ster Repräsen­tant jen­er Moral ist für Niet­zsche der Priester; dieser Typus verkör­pert das lebensverneinende Prinzip schlechthin, weil der Priester die Men­schen moralisch ein­schüchtert, indem er das Ressen­ti­ment predigt und daraus seinen Herrschaft­sanspruch über ihr Gewis­sen her­leit­et. Um diese Herrschaft zu brechen, ist eine Neuord­nung oder Umw­er­tung der nach bald zweitausend Jahren Chris­ten­tum fast konkur­ren­z­los daste­hen­den »Sklaven­moral« von­nöten, d. h. eine radikale Inspek­tion unseres gesamten Wertege­bäudes: »Wir haben eine Kri­tik der moralis­chen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selb­st erst ein­mal in Frage zu stellen.« Dadurch glaubt Niet­zsche, einen völ­lig neuen Blick auf die Geschichte des Men­schen gewor­fen zu haben.

Das Buch enthält außer­dem das vielle­icht mißver­ständlich­ste aller Gle­ich­nisse aus der Fed­er Niet­zsches, das der »blonden Bestie«: »Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthi­er, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verken­nen.« Mit diesem Bild redet er natür­lich nicht dem Furor teu­ton­i­cus das Wort, son­dern will deut­lich machen, daß der Hang zur Expan­sion, die Lust auf Eroberung, oder eben der Wille zur Macht unter allen »höheren« Völk­ern der Welt immer Aus­druck ihrer über­schäu­menden Vital­ität war. Denn darin unter­schei­de sich ein junges, unver­braucht­es Leben von einem geschwächt­en, dekaden­ten: Von Zeit zu Zeit muß das Tier »wieder her­aus, muss wieder in die Wild­niss zurück: – römis­ch­er, ara­bis­ch­er, ger­man­is­ch­er, japan­esis­ch­er Adel, home­rische Helden, skan­di­navis­che Wikinger – in diesem Bedürf­nis sind sie sich alle gle­ich«.

Wer das Leben bejaht, muß auch das Lei­den beja­hen, denn der Wille zur Macht, also zum Leben, bringt das Lei­den automa­tisch mit sich – diese Auf­fas­sung ist wesentlich­er Bestandteil von Niet­zsches »dion­y­sis­ch­er Weltan­schau­ung«, die ihn seit sein­er Jugend leit­et.

Wie schon in Jen­seits von Gut und Böse verzichtet Niet­zsche auch in der Genealo­gie auf die für ihn son­st so typ­is­che Form der Sen­tenz oder des Apho­ris­mus und kehrt zur geschlosse­nen sys­tem­a­tis­chen Darstel­lung des Früh­w­erks zurück. Ins­ge­samt ist der Ton sog­ar noch ein wenig schär­fer als der des Vor­läufers, die Kri­tik radikaler, die Aus­sage zuge­spitzter. Res­o­nanz find­et das Buch indes noch weniger als Jen­seits von Gut und Böse. Auch die Fre­unde, denen er wie immer ein Freiex­em­plar zukom­men läßt, reagieren zunehmend ver­hal­ten und irri­tiert.

Erwin Rohde zeigte sich bere­its nach der Lek­türe von Jen­seits von Gut und Böse Franz Over­beck gegenüber ger­adezu erschüt­tert: Das Buch sei voll von »ein­er wider­lichen Verekelung an Allem und Jedem. Das eigentlich Philosophis­che daran ist so dürftig und fast kindisch, wie das Poli­tis­che, wo es berührt wird, albern und wel­tunkundig«. Rohde wirft Niet­zsche »gigan­tis­che Eit­elkeit« und grobe Ein­seit­igkeit vor. »Das Buch thut mir weher für uns, wie für ihn: er hat den Weg nicht gefun­den, auf dem er zum Selb­st­genü­gen gelan­gen kön­nte, wirft sich nun krampfhaft hin und her, und ver­langt, daß man das für Entwick­lung nehmen soll.«

Die meis­ten Rezen­sio­nen kom­men zum gle­ichen Schluß, man habe es hier mit einem »Nar­ren« zu tun. Einzige Aus­nahme: die in Bern erscheinende Zeitschrift Der Bund, in der von Niet­zsches »gefährlich­stem Buch« die Rede ist, das viel »Dyna­mit« enthalte. Erst im 20. Jahrhun­dert set­zt die Rezep­tion ein. Starken Ein­fluß übte der Text u. a. auf das Denken Max Schel­ers aus (Das Ressen­ti­ment im Auf­bau der Moralen, 1912), auf das Sig­mund Freuds (Das Unbe­ha­gen in der Kul­tur, 1930) sowie auf das Michel Fou­caults.

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Zitat:

Der Sklave­nauf­s­tand in der Moral begin­nt damit, dass das Ressen­ti­ment selb­st  schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressen­ti­ment solch­er Wesen, denen die eigentliche Reak­tion, die der That ver­sagt ist, die sich nur durch eine imag­inäre Rache schad­los hal­ten.

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Aus­gabe:

  • Sämtliche Werke (Kri­tis­che Stu­di­en­aus­gabe), Bd. 5, München: dtv/de Gruyter 1980

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Lit­er­atur:

  • Michel Fou­cault: Niet­zsche, die Genealo­gie, die His­to­rie, in: ders.: Von der Sub­ver­sion des Wis­sens, Frank­furt a. M./Berlin/Wien 1978
  • Wern­er Stegmaier: Niet­zsches »Genealo­gie der Moral«, Darm­stadt 1994