1543 — Das Hauptwerk von Nikolaus Kopernikus erscheint

Mar­tin Luther soll nicht erbaut gewe­sen sein. Selb­st hat­te er ger­ade, unter Beru­fung auf die Autorität der Bibel, den gesamten Sta­tus quo der europäis­chen Chris­ten­heit in Frage gestellt, wenn auch wider Willen. Für ihn stand schon deshalb fest, daß die Sonne sich um die Erde drehe, wie es in der Schrift geschildert wird. Von der Behaup­tung des Gegen­teils, wie sie neuerd­ings ein gewiss­er Zeitgenosse namens Kopernikus ver­bre­it­ete, hielt er nichts. Das sei när­risch.

Es ging sich­er vie­len so. Sprich­wörtlich wurde die „Kopernikanis­che Wende“ des 16. Jahrhun­derts am Ende deshalb, weil sie die Dinge erstens vom Kopf auf die Füße stellte und zweit­ens, weil sie nicht nur auf den ersten Blick inhaltlich zunächst ganz unglaub­würdig schien. An den Uni­ver­sitäten des Mit­te­lal­ters hat­te es zu den gängi­gen rhetorischen Übun­gen gehört, in ein­er Dis­pu­ta­tion gele­gentlich absurde Stand­punk­te zu vertei­di­gen. Mitunter bestand dabei die The­men­vor­gabe darin, für eine der­art abstruse Ansicht wie die zu argu­men­tieren, daß die Erde um die Sonne kreise. Dafür ließen sich schw­er­lich Argu­mente find­en. Nun jedoch kam jemand ange­blich mit dem Beweis, dies sei tat­säch­lich so.

Genaugenom­men führte Kopernikus allerd­ings keinen Beweis im stren­gen Sinn. Er lieferte in bester wis­senschaftlich­er Manier ein alter­na­tives Erk­lärungsmod­ell für die Him­mels­be­we­gun­gen und dies anhand von vor­liegen­den Dat­en, die er zum aller­größten Teil nicht selb­st ermit­telt hat­te. Dem­nach kon­nte es also beispiel­sweise sein, daß die Eigen­tüm­lichkeit­en der von jed­er­mann am Him­mel zu beobach­t­en­den Plan­eten­be­we­gun­gen sich mit der gemein­samen Umkreisung der Sonne durch sie und die Erde erk­lären ließen. Kopernikus zeigte, daß diese These wider­spruchs­frei zu den vor­liegen­den Infor­ma­tio­nen paßte. Dies war seine rev­o­lu­tionäre Leis­tung, an der andere vorher gescheit­ert waren. Wie das am Him­mel detail­liert geschah oder gar zu erk­lären sei, dafür liefer­ten erst Kopernikus’ Nach­fol­ger wie Tycho Bra­he oder Isaac New­ton die notwendi­gen präzisen Beobach­tun­gen und The­o­rien.

Die Voraus­set­zung für sein Werk hat­te Kopernikus mit einem Studi­um u.a. der The­olo­gie, Medi­zin und Astronomie geschaf­fen, also klas­sis­ch­er Fäch­er abendländis­ch­er Uni­ver­sitäts­gelehrsamkeit. Pro­moviert wurde er im Fach Kirchen­recht. Seine aus­führliche Schrift über die Plan­eten­be­we­gun­gen (De rev­o­lu­tion­ibus orbium coelestium) brachte er schließlich erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1543 her­aus. Sie erschien in Nürn­berg und ver­mehrte die Zahl der von deutschem Boden aus­ge­hen­den Rev­o­lu­tio­nen der Frühen Neuzeit. Kopernikus wid­mete sie — vielle­icht sicher­heit­shal­ber — dem Papst, Paul III. Es gehörte offen­bar nicht zu seinen Eigen­schaften, die Mächti­gen zu provozieren, wie dies wis­senschaftliche Denker wie Galileo Galilei bis zur Verurteilung und Gior­dano Bruno sog­ar bis zur Hin­rich­tung tun soll­ten. Kopernikus ver­trat eine These — diese Rück­zugsmöglichkeit sollte die Inqui­si­tion später auch Galilei ergeb­nis­los anbi­eten — und ver­mied es, den aus kirch­lich­er Sicht brisan­ten Bere­ich mit der weit­erge­hen­den Behaup­tung zu betreten, was er sage, sei die „Wahrheit“.

Ohne sein Zutun zählt Kopernikus heute unter einem Aspekt trotz­dem zu den umstrit­te­nen Per­so­n­en. Dies ist deshalb so, weil er im Jahr 1473 in der Stadt Thorn an der Weich­sel geboren wurde. Als ursprünglich vom Deutschen Orden gegrün­dete, spätere Hans­es­tadt lag Thorn zu dieser Zeit mit im Bren­npunkt der Auseinan­der­set­zun­gen der pol­nis­chen Kro­ne mit dem Deutschen Orden und war als Teil von „Preußen Königlichen Anteils“ mit dem Kön­i­gre­ich Polen in ein­er Union ver­bun­den. Es kon­nte kaum aus­bleiben, daß die find­i­ge und hart­näck­ige pol­nis­che Geschicht­spoli­tik des neun­zehn­ten und zwanzig­sten Jahrhun­derts den Ver­such unternehmen würde, den Kopernikanis­chen Wel­truhm für sich und Kopernikus als großen Sohn des pol­nis­chen Volkes zu vere­in­nah­men. Dies geschieht bis heute mit großer Energie und beachtlichem Erfolg, naturgemäß befördert von dem Umstand der heuti­gen Lage Thorns im pol­nis­chen Hin­ter­land.

Kopernikus wäre über diese Entwick­lung sich­er erstaunt gewe­sen. Wis­senschaftlich gese­hen, ste­ht sein Werk tief ver­ankert in der antik-abendländis­chen Tra­di­tion und deren atem­ber­auben­der Weit­er­en­twick­lung in Deutsch­land um 1500. Abseits davon äußerte er sich zeitlebens auf deutsch, wenn das son­st all­ge­gen­wär­tige Latein nicht passend zu sein schien. An gewis­sen Punk­ten sollte man der Schrift auch ein­mal ver­trauen, selb­st wenn sie nicht als göt­tliche Offen­barung auftritt.

Lit­er­atur:

  • John Freely: Kopernikus. Rev­o­lu­tionär des Him­mels, Stuttgart 2015
  • Felix Schmei­dler: Niko­laus Kopernikus, Stuttgart 1970