Martin Luther soll nicht erbaut gewesen sein. Selbst hatte er gerade, unter Berufung auf die Autorität der Bibel, den gesamten Status quo der europäischen Christenheit in Frage gestellt, wenn auch wider Willen. Für ihn stand schon deshalb fest, daß die Sonne sich um die Erde drehe, wie es in der Schrift geschildert wird. Von der Behauptung des Gegenteils, wie sie neuerdings ein gewisser Zeitgenosse namens Kopernikus verbreitete, hielt er nichts. Das sei närrisch.
Es ging sicher vielen so. Sprichwörtlich wurde die „Kopernikanische Wende“ des 16. Jahrhunderts am Ende deshalb, weil sie die Dinge erstens vom Kopf auf die Füße stellte und zweitens, weil sie nicht nur auf den ersten Blick inhaltlich zunächst ganz unglaubwürdig schien. An den Universitäten des Mittelalters hatte es zu den gängigen rhetorischen Übungen gehört, in einer Disputation gelegentlich absurde Standpunkte zu verteidigen. Mitunter bestand dabei die Themenvorgabe darin, für eine derart abstruse Ansicht wie die zu argumentieren, daß die Erde um die Sonne kreise. Dafür ließen sich schwerlich Argumente finden. Nun jedoch kam jemand angeblich mit dem Beweis, dies sei tatsächlich so.
Genaugenommen führte Kopernikus allerdings keinen Beweis im strengen Sinn. Er lieferte in bester wissenschaftlicher Manier ein alternatives Erklärungsmodell für die Himmelsbewegungen und dies anhand von vorliegenden Daten, die er zum allergrößten Teil nicht selbst ermittelt hatte. Demnach konnte es also beispielsweise sein, daß die Eigentümlichkeiten der von jedermann am Himmel zu beobachtenden Planetenbewegungen sich mit der gemeinsamen Umkreisung der Sonne durch sie und die Erde erklären ließen. Kopernikus zeigte, daß diese These widerspruchsfrei zu den vorliegenden Informationen paßte. Dies war seine revolutionäre Leistung, an der andere vorher gescheitert waren. Wie das am Himmel detailliert geschah oder gar zu erklären sei, dafür lieferten erst Kopernikus’ Nachfolger wie Tycho Brahe oder Isaac Newton die notwendigen präzisen Beobachtungen und Theorien.
Die Voraussetzung für sein Werk hatte Kopernikus mit einem Studium u.a. der Theologie, Medizin und Astronomie geschaffen, also klassischer Fächer abendländischer Universitätsgelehrsamkeit. Promoviert wurde er im Fach Kirchenrecht. Seine ausführliche Schrift über die Planetenbewegungen (De revolutionibus orbium coelestium) brachte er schließlich erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1543 heraus. Sie erschien in Nürnberg und vermehrte die Zahl der von deutschem Boden ausgehenden Revolutionen der Frühen Neuzeit. Kopernikus widmete sie — vielleicht sicherheitshalber — dem Papst, Paul III. Es gehörte offenbar nicht zu seinen Eigenschaften, die Mächtigen zu provozieren, wie dies wissenschaftliche Denker wie Galileo Galilei bis zur Verurteilung und Giordano Bruno sogar bis zur Hinrichtung tun sollten. Kopernikus vertrat eine These — diese Rückzugsmöglichkeit sollte die Inquisition später auch Galilei ergebnislos anbieten — und vermied es, den aus kirchlicher Sicht brisanten Bereich mit der weitergehenden Behauptung zu betreten, was er sage, sei die „Wahrheit“.
Ohne sein Zutun zählt Kopernikus heute unter einem Aspekt trotzdem zu den umstrittenen Personen. Dies ist deshalb so, weil er im Jahr 1473 in der Stadt Thorn an der Weichsel geboren wurde. Als ursprünglich vom Deutschen Orden gegründete, spätere Hansestadt lag Thorn zu dieser Zeit mit im Brennpunkt der Auseinandersetzungen der polnischen Krone mit dem Deutschen Orden und war als Teil von „Preußen Königlichen Anteils“ mit dem Königreich Polen in einer Union verbunden. Es konnte kaum ausbleiben, daß die findige und hartnäckige polnische Geschichtspolitik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts den Versuch unternehmen würde, den Kopernikanischen Weltruhm für sich und Kopernikus als großen Sohn des polnischen Volkes zu vereinnahmen. Dies geschieht bis heute mit großer Energie und beachtlichem Erfolg, naturgemäß befördert von dem Umstand der heutigen Lage Thorns im polnischen Hinterland.
Kopernikus wäre über diese Entwicklung sicher erstaunt gewesen. Wissenschaftlich gesehen, steht sein Werk tief verankert in der antik-abendländischen Tradition und deren atemberaubender Weiterentwicklung in Deutschland um 1500. Abseits davon äußerte er sich zeitlebens auf deutsch, wenn das sonst allgegenwärtige Latein nicht passend zu sein schien. An gewissen Punkten sollte man der Schrift auch einmal vertrauen, selbst wenn sie nicht als göttliche Offenbarung auftritt.
Literatur:
- John Freely: Kopernikus. Revolutionär des Himmels, Stuttgart 2015
- Felix Schmeidler: Nikolaus Kopernikus, Stuttgart 1970