Tradition

Tra­di­tion ist schon dem Wortsinn nach die »Über­liefer­ung«, also die Menge dessen, was von den Vor­fahren auf uns kommt. Tra­di­tions­bil­dung ist dabei etwas spez­i­fisch Men­schlich­es, da das Tier die Weit­er­gabe des ein­mal Gewußten nicht sicherzustellen ver­mag. Die Sprache beziehungsweise deren Aufze­ich­nung durch Bild und Schrift sind entschei­dende Grund­la­gen der Tra­di­tion Gemein­schaften, die unfähig waren, Tra­di­tion zu schaf­fen und zu erhal­ten, sind in der Men­schheits­geschichte regelmäßig aus­gelöscht wor­den, das Fes­thal­ten der Tra­di­tion mußte schon deshalb als ele­mentare Klugheit­sregel gel­ten. Typ­isch ist der römis­che Bezug auf den mos maio­rum – die »Sitte der Alten« – als entschei­den­des Argu­ment in jed­er Debat­te um das Wohl des Staates.

Dieser Zusam­men­hang galt bis zum Beginn der Mod­erne unbe­strit­ten. Erst dann stellte der »Fortschritt« den Wert der Tra­di­tion grund­sät­zlich in Frage. Dabei ging es nicht nur um Zweifel an einzel­nen Über­liefer­ungs­bestän­den, son­dern um das »Recht auf Ver­gan­gen­heit« (Gus­tav Hillard), das heißt um die Infragestel­lung von Tra­di­tion zwecks Legit­i­ma­tion der Wert­set­zun­gen oder Ein­rich­tun­gen und deren Unter­w­er­fung unter einen ratio­nalen Begrün­dungszwang.

Ganz erfol­gre­ich war dieser Vorstoß aber nicht, denn es erwies sich die Lebens­fremd­heit ein­er prinzip­iellen Tra­di­tions­feind­schaft, die die »Begrün­dungska­paz­ität« (Odo Mar­quard) des Men­schen als Indi­vidu­um wie als Glied ein­er sozialen Ein­heit über­schätzt. Die Kürze unseres Lebens und die Unüber­sichtlichkeit des gesellschaftlichen Gefüges machen es unmöglich, alles in Frage zu stellen, nur weil es qua Tra­di­tion Gel­tung beansprucht.

Was aber noch schw­er­er wiegt, ist die Unfähigkeit zu schöpferischen Hand­lun­gen ohne Bezug auf die Tra­di­tion. Das gilt vor allem für den poli­tis­chen und den religiösen Bere­ich. Die Erfahrun­gen, die auf diesen Gebi­eten mit radikalen Tra­di­tion­s­ab­brüchen gemacht wur­den, sprechen gegen solche Exper­i­mente. Hier wie dort geht es immer um ein Anknüpfen an die Über­liefer­ung.

Damit ist allerd­ings keine Gel­tung von Tra­di­tion per se vertei­digt, die es auch in der Ver­gan­gen­heit nicht gegeben hat. Jede Tra­di­tion ent­stand durch Auswahl dessen, was tradiert wer­den sollte. Insofern bleibt eine Gren­ze zu ziehen, nicht nur gegenüber den Neuerungssüchti­gen, son­dern auch gegenüber einem »objek­tiv­en« Tra­di­tion­al­is­mus, der entwed­er rein for­mal alles bewahren will oder einen bes­timmten Zus­tand ohne Wenn und Aber für maßge­blich und »ewig« erk­lärt, so daß die Beru­fung auf die Tra­di­tion jede Erwä­gung über notwendi­ge Verän­derun­gen im Strom der Geschichte über­flüs­sig macht. Let­ztlich hat es jede Tra­di­tions­bil­dung mit ein­er Entschei­dung darüber zu tun, was der Erhal­tung wert ist, weil es dauern sollte, und was diese Anstren­gung nicht lohnt, weil es ohne dauern­den Wert ist.

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Zitat:

Ein Staat … ist nicht bloß eine Gemein­schaft in Din­gen, deren die grobe tierische Exis­tenz des vergänglichen Teils unseres Wesens bedarf, er ist eine Gemein­schaft in allem was wis­senswürdig, in allem was schön, in allem was schätzbar und gut und göt­tlich im Men­schen ist. Da die Zwecke ein­er solchen Verbindung nicht in ein­er Gen­er­a­tion zu erre­ichen sind, so wird daraus eine Gemein­schaft zwis­chen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben sollen.
Edmund Burke

Das Abreißen der Tra­di­tion. Es wird dadurch bewirkt, daß ein kri­tis­ch­er Punkt erre­icht ist, an dem es der jün­geren Gen­er­a­tion nicht mehr gelingt, sich mit der älteren kul­turell zu ver­ständi­gen, geschweige denn zu iden­ti­fizieren. Sie behan­delt diese daher wie eine fremde eth­nis­che Gruppe und begeg­net ihr mit nationalem Haß. Die Gründe für diese Iden­ti­fika­tions-Störung liegen vor allem in man­gel­n­dem Kon­takt zwis­chen Eltern und Kindern, was schon im Säuglingsalter pathol­o­gis­che Fol­gen zeit­igt.
Kon­rad Lorenz

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Lit­er­atur: