Marquard, Odo, Philosoph, 1928–2015

Odo Mar­quard wurde am 26. Feb­ru­ar 1928 Stolp (Hin­ter­pom­mern) geboren. Mar­quard gilt als der Skep­tik­er des Kreis­es um Joachim Rit­ter, wie kaum ein zweit­er Rit­ter­schüler fand seine Tran­szen­den­tal­bel­letris­tik auch Anklang in der angel­säch­sis­chen Welt, ins­beson­dere bei Richard Rorty. Im Blick auf den Zuschnitt seines Philoso­phierens wenig ver­wun­der­lich, hat Mar­quard ins­beson­dere in Psy­cho­analyse, Kun­st- und Kul­tur­wis­senschaften große Res­o­nanz gefun­den.

In den Jahren 1947 bis 1954 studierte Mar­quard Philoso­phie, Ger­man­is­tik und The­olo­gie in Mün­ster und in Freiburg. Neben Joachim Rit­ter war der damals in Freiburg lehrende katholis­che Hei­deg­ger-Schüler Max Müller sein maßge­blich­er Lehrer. Von ihm wurde Mar­quard 1954 mit ein­er kon­ven­tionellen sys­tem­a­tis­chen Studie “Zum Prob­lem des Scheins im Anschluss an Kant” pro­moviert.

Als wis­senschaftlich­er Assis­tent von Rit­ter arbeit­ete er eine, erst Jahrzehnte später pub­lizierte, Habil­i­ta­tion­ss­chrift aus, die sein maßge­blich­es Buch bleiben wird: Über die Depoten­zierung der Tran­szen­den­tal­philoso­phie. Einige philosophis­che Motive eines neueren Psy­chol­o­gis­mus in der Philoso­phie. Mar­quard verbindet darin die speku­la­tive Natur- und See­len­philoso­phie Schellings und der frühen Roman­tik in erstaunlich­er Sou­veränität mit den Prob­le­men der Tiefenpsy­cholo­gie, nicht zulet­zt durch eigene Depres­sion­ser­fahrun­gen geschult. Zwei Jahre lang hat­te er die Posi­tion inne, die, wie er später wieder­holt sagen sollte, Ziel sein­er Wün­sche war: die des Pri­vat­dozen­ten in Mün­ster. 1965 wurde er als Ordentlich­er Pro­fes­sor an die Uni­ver­sität Gießen berufen, der er bis zur Emer­i­tierung 1993 treu blieb, unter­brochen durch vere­inzelte Gast­pro­fes­suren und ein Fel­low­ship am Berlin­er Wis­senschaft­skol­leg 1982/83.

Zahlre­iche Preise und Ausze­ich­nun­gen, auch für die ästhetis­che Qual­ität sein­er Schriften, hat Mar­quard sei­ther emp­fan­gen (so den Sig­mund Freud-Preis für wis­senschaftliche Prosa 1984 und den Cicero-Red­ner­preis 1998). Mar­quards gen­uine Form ist der Essay, in ein­er Aus­lo­tung von Denkmöglichkeit­en und Para­dox­ien. Skep­tisch ist er gegenüber Großen­twür­fen, sowohl den philosophis­chen Sys­te­men als auch der Geschicht­sphiloso­phie gegenüber. Sie hat er in den Auf­sätzen Schwierigkeit­en mit der Geschicht­sphiloso­phie (1973) als Folge und Umplatzierung der unlös­baren alten Theodizeefrage ver­standen. Den Men­schen denkt Mar­quard mit Herder oder Gehlen als endlich­es Män­gel­we­sen, das sich in ein­er kontin­gen­ten Welt vorfind­et und dessen Möglichkeit­en, diese Welt (im Sinne der Frank­furter Kri­tis­chen The­o­rie) ein­er grund­sät­zlichen Über­prü­fung zu unterziehen oder gar utopisch zu verän­dern, mehr als begren­zt sei. Die XI. Feuer­bach-These von Marx hat Mar­quard daher in dem Sinn refor­muliert: Man hat die Welt so viel verän­dert. Es komme darauf an sie zu ver­scho­nen.

Mit seinem Lehrer Joachim Rit­ter teilt Mar­quard die These von der grund­sät­zlichen Zus­tim­mungs­fähigkeit der mod­er­nen Welt, ins­beson­dere der offe­nen Gesellschaft der Demokra­tien. Üblichkeit­en näm­lich sind, so hält er in einem dem amerikanis­chen Prag­ma­tismus ver­wandten Geist fest, unver­mei­dlich in Anspruch zu nehmen. Er hat sich, wie in ver­gle­ich­bar­er Inten­sität nur noch Gün­ter Rohrmoser, mit der Frank­furter Schule auseinan­derge­set­zt und, namentlich in der Diskursethik von Haber­mas, ein Erbe der alten Geschicht­sphiloso­phie gese­hen, das zu ein­er Tri­bunal­isierung Wirk­lichkeit führen müsse, wom­it eine Grund­struk­tur der Poli­tis­chen Kor­rek­theit deut­lich erkan­nt ist.

Durch seinen “Abschied vom Prinzip­iellen” hat sich Mar­quard ger­ade auch in die Debat­ten der Post­mod­erne der achtziger Jahre eingeschrieben. Er hat in kleinen Stu­di­en eine Apolo­gie des Zufäl­li­gen vorgelegt und – im Sinn eines alten, reli­gion­swis­senschaftlich und reli­gion­sphilosophisch freilich kaum überzeu­gen­den Topos den huma­nen Mehrw­ert des Poly­the­is­mus gegenüber dem Monothe­is­mus evoziert.

Eben­falls in der Folge von Joachim Rit­ter hat sein Eröff­nungsvor­trag vor der West­deutschen Rek­torenkon­ferenz im Mai 1985 eine zeitweise vehe­mente Diskus­sion her­vorgerufen. Hier votierte Mar­quard für die „Unver­mei­dlichkeit der Geis­teswis­senschaften“, da die tech­nisch wis­senschaftliche Ratio­nal­ität die Lebenswelt immer weit­erge­hend bes­timme. Ein Sinn stif­ten­des Gegengewicht könne einzig in Kun­st, Philoso­phie, Lit­er­atur, Geschichte und Reli­gio­nen gewon­nen wer­den.

Damit ver­bun­den beschwört Mar­quard, daß es ohne Herkun­ft keine Zukun­ft geben könne. Der „Abschied vom Prinzip­iellen“ gilt selb­stver­ständlich auch den großen Erzäh­lun­gen. Es sind mithin die „kleinen Nar­ra­tive“ (courts réc­its), auf die sich jene Kom­pen­sa­tion­s­these beruft. Ihrer schwachen Mar­quard­schen Form wurde nicht ganz zu Unrecht der Vor­wurf gemacht, daß sie auf eine affir­ma­tive Kul­tur­funk­tion begren­zt sei. Mar­quard ist ein bril­lanter Skep­tik­er, ein melan­cholis­ch­er Ironiker zwis­chen Philoso­phie und Lit­er­atur, der seine eigentlich zen­tralen Anliegen häu­figer in der Form ele­gan­ter Vernei­n­ung als der Bejahung artikuliert.

Odo Mar­quard starb am 9. Mai 2015 in Celle.

– — –

Zitat:

Frei – das gehört somit zu den Imp­lika­tio­nen und Resul­tat­en mein­er Über­legung — frei ist, wer lachen und weinen kann; und Würde hat der, der lacht und weint, und – unter den Men­schen — ins­beson­dere der, der viel gelacht und geweint hat. Also auch diese Gren­zreak­tio­nen Lachen und Weinen sind For­men dessen, auf das ich hier aufmerk­sam machen wollte: For­men der Apolo­gie des Zufäl­li­gen.

– — –

Schriften:

  • Skep­tis­che Meth­ode im Blick auf Kant, Freiburg i.Br./München 1958
  • Schwierigkeit­en mit der Geschicht­sphiloso­phie, Frank­furt a.M. 1973
  • Abschied vom Prinzip­iellen, Stuttgart 1981
  • Apolo­gie des Zufäl­li­gen, Stuttgart 1986
  • Tran­szen­den­taler Ide­al­is­mus, roman­tis­che Natur­philoso­phie, Psy­cho­analyse, Köln 1987
  • Aes­thet­i­ca und Anaes­thet­i­ca, Pader­born 1989
  • Skep­sis und Zus­tim­mung, Stuttgart 1994
  • Philoso­phie des Stattdessen, Stuttgart 2000
  • Zukun­ft braucht Herkun­ft, Stuttgart 2003
  • Indi­vidu­um und Gewal­tenteilung, Stuttgart 2004
  • Skep­sis in der Mod­erne, Stuttgart 2007

– — –

Lit­er­atur:

  • Jens Hacke: Philoso­phie der Bürg­er­lichkeit. Die lib­er­alkon­ser­v­a­tive Begrün­dung der Bun­desre­pub­lik, Göt­tin­gen 2006
  • Alois Halb­mayr: Lob der Viel­heit. Zur Kri­tik Odo Mar­quards am Monothe­is­mus, Salzburg 2000
  • Rochus Leon­hardt: Skep­tizis­mus und Protes­tantismus. Der philosophis­che Ansatz Odo Mar­quards als Her­aus­forderung an die evan­ge­lis­che The­olo­gie, Tübin­gen 2003