Utopie

Utopie bedeutet vom Wortsinn her »Nir­gend­wo« (griechisch etwa »kein Ort«) und beze­ich­net jene Ide­al­staat­en, die seit der Antike von ver­schiede­nen Autoren ent­wor­fen wur­den; die Beze­ich­nung selb­st ist erst üblich gewor­den mit der Utopia des Thomas Morus, die 1516 erschien.

Das Verbindende aller Utopie ist ihre Ten­denz, eine vol­lkommene irdis­che Ord­nung zu pro­jek­tieren, die Friedlichkeit nach innen und einen Aus­gle­ich aller sozialen Inter­essen ver­bürgt. Deshalb beste­ht eine Art natür­lich­er Verbindung der Utopie mit egal­itären Vorstel­lun­gen (Gerechtigkeit) und elitären Führungskonzepten.

Die Utopie dient als Gegen­bild zur beste­hen­den Ver­fas­sung, dann als Vor­bild für einen zukün­ftig zu errich­t­en­den Staat. Während das erste Moment von Anfang an eine wichtige Rolle spielte, ist das zweite erst mit Beginn der europäis­chen Neuzeit her­vor­ge­treten. Das geht vor allem auf die Wahrnehmung größer­er Ein­griffs- und Gestal­tungsmöglichkeit­en zurück, die es zu erlauben schienen, den Gesellschaft­sauf­bau voll­ständig neu zu kon­stru­ieren.

Dieser Bedeu­tungszuwachs der Utopie erk­lärt umgekehrt den Bedeu­tungsver­lust älter­er nativis­tisch (auf einen Urzu­s­tand) wie chil­iastisch (auf einen Endzu­s­tand) gerichteter Bestre­bun­gen, die es keineswegs nur im Raum des christlichen Abend­lan­des gegeben hat­te und die in ihrem radikalen Verän­derungswillen Berührung mit utopis­chen Strö­mungen aufwiesen, allerd­ings sehr viel stärk­er durch irra­tionale Erwartun­gen bee­in­flußt wur­den, jeden­falls nie den the­o­retis­chen Gehalt von Utopie im engeren Sinn besaßen.

Obwohl die poli­tis­che Linke von den utopis­chen Erwartun­gen, die seit dem 18. Jahrhun­dert zunehmend Ver­bre­itung fan­den, nach­haltig prof­i­tierte, ent­stand in ihren Rei­hen doch eine grund­sät­zliche Kri­tik der Utopie. Diese wurde vor allem von Karl Marx und Friedrich Engels for­muliert, die ihren eige­nen Entwurf des »wis­senschaftlichen« dem des »utopis­chen Sozial­is­mus« ent­ge­gen­stell­ten. Damit wurde ein prinzip­ieller Ein­wand gegen die Utopie vorge­bracht, sofern sie mit der Vorstel­lung rein wil­lens­mäßiger Ver­wirk­lichung verknüpft war. Dage­gen betonte der Marx­is­mus immer, daß Sozial­is­mus nur unter bes­timmten objek­tivier­baren Bedin­gun­gen zu real­isieren sei, jeden­falls nicht als Ergeb­nis kollek­tiv­en Wün­schens oder kollek­tiv­er Wil­len­sanstren­gun­gen.

Diese Kri­tik der Utopie erre­ichte allerd­ings niemals jenen Grad prinzip­ieller Schärfe wie man ihn auf der Recht­en find­et. Hier spielte nicht nur der Vor­wurf man­gel­nden Wirk­lichkeits­bezugs eine Rolle, son­dern auch der der Ungeschichtlichkeit, das heißt, die Utopie galt als ein – got­t­los­er – Ver­such, die his­torischen Bedin­gun­gen men­schlich­er Exis­tenz aufzuheben. Ein weit­eres Argu­ment lieferte die Erfahrung mit allen Ver­suchen zur prak­tis­chen Umset­zung von Utopie, die regelmäßig zum Kol­laps der Sozialord­nung oder zur Entste­hung ter­ror­is­tis­ch­er Sys­teme führte; dieser Umschlag hat­te auch die Entwick­lung von Gegen- oder »Schwarzen Utopie« zur Folge (Orwell: 1984, Hux­ley: Schöne neue Welt).

Während sich der ältere Kon­ser­vatismus mit dieser – wohlbe­grün­de­ten, aber rein neg­a­tiv­en – Hal­tung gegenüber der Utopie beg­nügte, zeigte sich im Ver­lauf des 19. Jahrhun­derts zunehmend eine Leer­stelle auf der Recht­en, die durch dieses Fehlen eines die poli­tis­che Gegen­wart tran­szendieren­den Ele­ments verur­sacht wurde. Die Über­legun­gen zur sozialen Funk­tion des Mythos, der anders als die Utopie nicht gemacht wurde, son­dern aus der kollek­tiv­en Phan­tasie spon­tan ent­stand, waren auch ein Ver­such, hier Abhil­fe zu schaf­fen. Darüber hin­aus­ge­hende Ver­suche zum Entwurf ein­er »kon­ser­v­a­tiv­en Utopie« (Georg Quabbe) unter Auf­nahme ein­er Tra­di­tion­slin­ie, die von Pla­tons Staat hergeleit­et wurde, blieben dage­gen Aus­nah­meer­schei­n­un­gen.

– — –

Zitate:

Der Mann der Linken ver­achtet das Sein; er bevorzugt nach den Worten Jean-Jacques Rousseaus – immer und unbe­grün­det – das, was nicht ist, vor dem, was ist.
Jacques Mar­i­tain

Der poli­tis­che Geist sehnt sich aus einem Reich des spreizen­den Scheins, der Tiraden und der phan­tastis­chen Ver­sprechun­gen nach einem staatlichen Gebilde, in dem die Gewalt klug und gerecht geübt wird, in dem nie­mand ver­hungert, nie­mand ein­er Idee zuliebe ermordet wird, in dem der Irrtum geschont wird, aber die Presse nicht lügen darf, in dem es wed­er Kas­ten noch Klassen gibt und was der mäßi­gen Ansprüche an ein wohlge­ord­netes Staatswe­sen mehr sind. Aber, wird man sagen, das ist doch eine offen­bare Utopie! Die Leute, die vor 1914 erwach­sen waren, wer­den das nicht ganz wahrhaben wollen, aber im all­ge­meinen ist man heut so weit.

Georg Quabbe

– — –

Lit­er­atur:

  • Hans Frey­er: Die poli­tis­che Insel. Eine Geschichte der Utopi­en von Pla­ton bis zur Gegen­wart [1936], zulet­zt Wien und Leipzig 2000
  • Thomas Mol­nar: Die Linke beim Wort genom­men, Stuttgart 1972
  • Georg Quabbe: Das let­zte Reich. Wan­del und Wesen der Utopie, Leipzig 1933
  • Robert Spae­mann: Zur Kri­tik der poli­tis­chen Utopie, Stuttgart 1972