Abschied vom Prinzipiellen — Odo Marquard, 1981

Anfang der achtziger Jahre veröf­fentlichte der Philosoph Odo Mar­quard eine Rei­he von Auf­sätzen für ein bre­it­eres Pub­likum, nicht nur für den Kreis der Fachgenossen. Einige dieser »Stu­di­en« wur­den zu kleinen Bän­den des Reclam-Ver­lags zusam­menge­faßt, darunter der Titel Abschied vom Prinzip­iellen. »Abschied vom Prinzip­iellen« heißt auch der erste Beitrag in diesem Buch, der eine Art Rechen­schafts­bericht darstellt. Mar­quard legt einen Teil sein­er intellek­tuellen Biogra­phie offen, die Gründe, die ihn zum Philoso­phi­es­tudi­um bewogen hat­ten, die Zufälle, die ihn in der unmit­tel­baren Nachkriegszeit nach Mar­burg und dort in das Sem­i­nar Joachim Rit­ters führten.

Vor allem aber geht es um die Beziehung zwis­chen sein­er Denkweise und sein­er Gen­er­a­tio­nen­zuge­hörigkeit. Mar­quard, Jahrgang 1928, gehörte, nach ein­er berühmt gewor­de­nen Formel Schel­skys, der »skep­tis­chen Gen­er­a­tion« an, die sich von der »poli­tis­chen Gen­er­a­tion« deut­lich unter­schied. Let­ztere war im nationalen und im europäis­chen Bürg­erkrieg groß gewor­den, der Kampf der Ide­olo­gien und die Lei­den­schaft für let­zte Wahrheit­en hat­ten sie entsprechend geprägt. Die skep­tis­che Gen­er­a­tion sah die dadurch her­auf­beschworene Katas­tro­phe und zweifelte deshalb an der Möglichkeit ein­deutiger Antworten — das hieß Beschei­dung und Ein­sicht in die Macht der Kontin­genz — und forderte »Ent­las­tung vom Absoluten« und damit eine skep­tis­che oder »Philoso­phie der Endlichkeit«, wie Mar­quard sie nan­nte.

Diese »Philoso­phie der Endlichkeit« hat Mar­quard — und auch das ist beze­ich­nend ‑niemals sys­tem­a­tisch entwick­elt. Der Band Abschied vom Prinzip­iellen umfaßt eher essay­is­tis­che Ver­suche, die eigene Posi­tion zu klären, gegen den Geist von 19€™68 und jeden Utopis­mus über­haupt, mit vor­sichtiger Sym­pa­thie für die ökol­o­gis­che Bewe­gung und das, was man später »neue Bürg­er­lichkeit« nen­nen wird, bei kon­se­quenter Ablehnung von überspan­nten Sin­ner­wartun­gen und dem, was Mar­quard tre­f­fend als »Grup­pen­sucht« und »kom­mu­nika­tive Fer­nem­phase« beze­ich­net. Die Vere­inzelung des Men­schen in der Mod­erne hält Mar­quard für unhin­terge­hbar, er sieht die Prob­leme, die Iso­la­tion und Masse her­vor­rufen, aber er hält die Chan­cen der Frei­heit für größer und ver­läßt sich im übri­gen auf die Wirk­samkeit des alten Haus­rezepts für ein gelin­gen­des Leben: Humor, Bil­dung und Reli­gion.

Was die Bil­dung ange­ht, so nimmt man nicht ohne Bewe­gung Mar­quards Vertei­di­gung der Geis­teswis­senschaften zur Hand. Man liest die klu­gen Gedanken, die über­raschen­den Schluß­fol­gerun­gen, die selb­stiro­nis­chen Aus­führun­gen zur »Inkom­pe­ten­zkom­pen­sa­tion­skom­pe­tenz«, aber es bleibt doch ein Ungenü­gen. Das hängt mit dem Charak­ter solch­er Vertei­di­gung als Vertei­di­gung zusam­men. Denn alles von Mar­quard Vor­ge­tra­gene ist seinem Wesen nach defen­siv und set­zt voraus, daß es selb­stver­ständlich noch eine Lin­ie gibt, die sich mit Aus­sicht auf Erfolg hal­ten läßt. Die Ursache dafür ist jen­er »Moder­nität­stra­di­tion­al­is­mus«, den Mar­quard mit dem zweit­en Berühmten der »Rit­ter-Schule« — Her­mann Lübbe — teilt: die Überzeu­gung, daß die Errun­gen­schaften der Neuzeit unbe­d­ingt schützenswert sind. Das ist seinem Wesen nach eine opti­mistis­che, keine skep­tis­che Auf­fas­sung, die gle­ichzeit­ig daran hin­dert, die Bedin­gun­gen solch­er Frei­heit voll­ständig zu erfassen und über die Mit­tel kon­se­quent nachzu­denken, die zur Vertei­di­gung oder zur Regen­er­a­tion der Bedin­gun­gen angewen­det wer­den müßten.

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Zitat:

All diese Über­legun­gen ver­ab­schieden die prinzip­ielle Philoso­phie; aber sie ver­ab­schieden nicht die unprinzip­ielle Philoso­phie: die Skep­sis. Sie ver­ab­schieden für die Men­schen die prinzip­iellen Frei­heit; aber sie ver­ab­schieden nicht die wirk­liche Frei­heit, die im Plur­al: die Frei­heit­en.

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Aus­gabe:

  • 3. Auflage, Stuttgart: Reclam 2000

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Lit­er­atur:

  • Jens Hacke: Philoso­phie der Bürg­er­lichkeit. Die lib­er­alkon­ser­v­a­tive Begrün­dung der Bun­desre­pub­lik, Göt­tin­gen 2006