Der einst wichtigste, einflussreichste und populärste Vertreter der bundesdeutschen Soziologie ist sowohl in seinem Fach als auch in der Öffentlichkeit weitgehend zu einem Unbekannten geworden. Sein Werdegang zeigt seismographisch große Umbrüche in der Geistesgeschichte unseres Landes an.
Schelsky, am 14. Oktober 1912 in Chemnitz geboren, ging 1931 zum Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Pädagogik nach Leipzig. Seine akademischen Lehrer in Leipzig hießen Hans Freyer, Arnold Gehlen und Theodor Litt. Nach dem Staatsexamen promovierte er 1935 über Fichtes „Naturrecht“, begleitete Gehlen 1938 als dessen Assistent an die Universität Königsberg, wo er sich 1939 mit einer Schrift über Thomas Hobbes für Philosophie und – auf eigenen Wunsch — Soziologie habilitierte.
Die neugegründete Reichsuniversität Straßburg (wo nie ein Lehr- oder Forschungsbetrieb stattfand) schlug ihn 1943 für eine Professor in Soziologie vor. 1940/41 arbeitete Schelsky als Assistent Freyers in Budapest am Deutschen Kultur-Institut, bevor er an die Ostfront eingezogen wurde. Sofort nach dem Krieg baute er in Hamburg und Karlsruhe den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes an entscheidender Stelle mit auf.
1948 erhielt Schelsky an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg einen Lehrstuhl für Soziologie. Von dort gelang ihm 1953 der Sprung auf das neue Ordinariat für Soziologie der Universität Hamburg, das er bis 1960 innehatte, bevor er an die Universität Münster berufen wurde. Damit in Personalunion verbunden war die Leitung der Sozialforschungsstelle Dortmund, damals das größte Forschungsinstitut Westeuropas, die Schelsky durch seine Doktoranden und Habilitanden zur bedeutendsten Qualifizierungsstätte der (noch kleinen) akademischen Soziologie Deutschlands machte.
In den Hamburger und Münsteraner Jahren befasste sich Schelsky eingehend mit den Tendenzen, Kräften und Spannungen der Nachkriegsgesellschaft. Es entstanden in schneller Folge seine breit angelegten Untersuchungen zu den relevanten Themen der Nachkriegszeit: Jugend und Familie, Bildung und Berufsbildung, Eingliederung der Vertriebenen, Sexualität, Automatisierung, Freizeit und Alter, soziale Schichtung, Religion und Kirche, Gesundheitswesen. Alle erreichten hohe Auflagezahlen und wurden in zahlreiche Fremdsprachen übersetzt. In heute kaum mehr vorstellbarem Maße wirkte Schelsky mit diesen Publikationen und mit seinen Vorträgen, als Herausgeber wissenschaftlicher Reihen und Jahrbücher und mit seiner Mitarbeit in Gremien, Ämtern, Stiftungen, und, nicht zu vergessen, durch seine zahlreichen Examinanden in das öffentliche Leben der Bonner Republik hinein: Parteien, Verbände, die Sozialversicherung, die Wirtschaft, selbst Regierungskreise zogen ihn zu Rate.
In den Sozialwissenschaften selbst blieben seine Arbeiten immer Gesprächsthema, doch nie unumstritten; gelegentlich wurden ihm sogar Linkslastigkeit und Modernismus vorgeworfen. 1970 wechselte er an die neugegründete Universität Bielefeld, die er mit installiert hatte und wo er eine eigene Fakultät für Soziologie durchsetzte. Im Klima der kulturrevolutionären Verschiebungen an den Universitäten begannen bald heftige Auseinandersetzungen mit Studenten, dann Kollegen. Verbittert zog sich Schelsky 1973 wieder nach Münster zurück, wo er auf einem Lehrstuhl für Rechtssoziologie überdauern durfte. Von da an startete er seine polemische Kampagne als „Anti-Soziologe“ gegen den linken Zeitgeist; allesamt Publikationen, die umgehend in die Beststellerlisten gelangten, doch fand er beim akademischen Publikum nur mehr wenig Gehör. Resigniert zog er sich nach der Emeritierung 1978 in sein Altersdomizil im Burgenland zurück. In Wien war er Gastprofessor, die Universität Graz machte ihn zum Honorarprofessor.
Schelskys Werk ist von der Frage bewegt, wie soziale Stabilität und historischer Wandel in ein gutes Verhältnis gebracht werden können. Die Institutionen der Bundesrepublik – die Familie, die soziale Marktwirtschaft, der Rechtsstaat, das Bildungssystem, die Kirchen, der Parlamentarismus etc. – waren deshalb für ihn ein schützenswertes Gut, weil sie einerseits Erfahrungswissen aufbewahrten, andererseits Raum für Erkenntnis und Meisterung neu auftauchender Probleme boten und damit persönliche und kollektive Weiterentwicklung ermöglichten.
Die Intellektuellen mit ihren utopischen Entwürfen und Kritiken galten ihm als ein mit Herrschaftsanspruch auftretender neuer Klerus, der das Bewusstsein der abhängig arbeitenden Bevölkerung zu manipulieren versuche und einen neuen Typus von Untertan, den „betreuten Menschen“ hervorbringe. Auf der Strecke bliebe die abendländische Idee der freien Person.
Schelsky starb am 24. Februar 1984 in Münster.
– — –
Zitat:
Eine quasi-religiöse Glaubensherrschaft kann in modernen Staaten nur noch zum Zuge kommen, wenn Rationalität selbst zu einem Glaubensinhalt umgewertet und ihre Anwendung zu einem Herrschaftsmonopol einer bestimmten Gruppe wird.
– — –
Schriften:
- Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, 1939 (Berlin 1981)
- Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957
- Ortsbestimmung der Soziologie, Düsseldorf/Köln 1959
- Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln/Opladen 1961
- Einsamkeit und Freiheit. Die deutsche Universität und ihre Reformen, Hamburg 1963
- Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965
- Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975
- Der selbständige und der betreute Mensch, Stuttgart 1976
- Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979
- Rückblicke eines Anti-Soziologen, Opladen 1981
– — –
Literatur:
- Horst Baier (Hrsg.): Freiheit und Sachzwang. Beiträge zu Ehren Helmut Schelskys, Opladen 1977
- Horst Baier: Helmut Schelsky – ein Soziologe in der Bundesrepublik. Eine Gedächtnisschrift von Freunden, Kollegen und Schülern, Stuttgart 1986
- Rainer Waßner (Hg.): Wege zum Sozialen. 90 Jahre Soziologie in Hamburg, Opladen 1988
- Rainer Waßner: Autorenporträt Helmut Schelsky, in: Sezession (2010), Heft 35