Schelsky, Helmut, Soziologe, 1912–1984

Der einst wichtig­ste, ein­flussre­ich­ste und pop­ulärste Vertreter der bun­des­deutschen Sozi­olo­gie ist sowohl in seinem Fach als auch in der Öffentlichkeit weit­ge­hend zu einem Unbekan­nten gewor­den. Sein Werde­gang zeigt seis­mo­graphisch große Umbrüche in der Geis­tes­geschichte unseres Lan­des an.

Schel­sky, am 14. Okto­ber 1912 in Chem­nitz geboren, ging 1931 zum Studi­um der Philoso­phie, Ger­man­is­tik, Geschichte und Päd­a­gogik nach Leipzig. Seine akademis­chen Lehrer in Leipzig hießen Hans Frey­er, Arnold Gehlen und Theodor Litt. Nach dem Staat­sex­a­m­en pro­movierte er 1935 über Ficht­es „Natur­recht“, begleit­ete Gehlen 1938 als dessen Assis­tent an die Uni­ver­sität Königs­berg, wo er sich 1939 mit ein­er Schrift über Thomas Hobbes für Philoso­phie und – auf eige­nen Wun­sch — Sozi­olo­gie habil­i­tierte.

Die neuge­grün­dete Reich­suni­ver­sität Straßburg (wo nie ein Lehr- oder Forschungs­be­trieb stat­tfand) schlug ihn 1943 für eine Pro­fes­sor in Sozi­olo­gie vor. 1940/41 arbeit­ete Schel­sky als Assis­tent Frey­ers in Budapest am Deutschen Kul­tur-Insti­tut, bevor er an die Ost­front einge­zo­gen wurde. Sofort nach dem Krieg baute er in Ham­burg und Karl­sruhe den Such­di­enst des Deutschen Roten Kreuzes an entschei­den­der Stelle mit auf.

1948 erhielt Schel­sky an der Akademie für Gemein­wirtschaft in Ham­burg einen Lehrstuhl für Sozi­olo­gie. Von dort gelang ihm 1953 der Sprung auf das neue Ordi­nar­i­at für Sozi­olo­gie der Uni­ver­sität Ham­burg, das er bis 1960 innehat­te, bevor er an die Uni­ver­sität Mün­ster berufen wurde. Damit in Per­son­alu­nion ver­bun­den war die Leitung der Sozial­forschungsstelle Dort­mund, damals das größte Forschungsin­sti­tut Wes­teu­ropas, die Schel­sky durch seine Dok­toran­den und Habil­i­tanden zur bedeu­tend­sten Qual­i­fizierungsstätte der (noch kleinen) akademis­chen Sozi­olo­gie Deutsch­lands machte.

In den Ham­burg­er und Mün­ster­an­er Jahren befasste sich Schel­sky einge­hend mit den Ten­den­zen, Kräften und Span­nun­gen der Nachkriegs­ge­sellschaft. Es ent­standen in schneller Folge seine bre­it angelegten Unter­suchun­gen zu den rel­e­van­ten The­men der Nachkriegszeit: Jugend und Fam­i­lie, Bil­dung und Berufs­bil­dung, Eingliederung der Ver­triebe­nen, Sex­u­al­ität, Automa­tisierung, Freizeit und Alter, soziale Schich­tung, Reli­gion und Kirche, Gesund­heitswe­sen. Alle erre­icht­en hohe Auflagezahlen und wur­den in zahlre­iche Fremd­sprachen über­set­zt. In heute kaum mehr vorstell­barem Maße wirk­te Schel­sky mit diesen Pub­lika­tio­nen und mit seinen Vorträ­gen, als Her­aus­ge­ber wis­senschaftlich­er Rei­hen und Jahrbüch­er und mit sein­er Mitar­beit in Gremien, Ämtern, Stiftun­gen, und, nicht zu vergessen, durch seine zahlre­ichen Exam­i­nan­den in das öffentliche Leben der Bon­ner Repub­lik hinein: Parteien, Ver­bände, die Sozialver­sicherung, die Wirtschaft, selb­st Regierungskreise zogen ihn zu Rate.

In den Sozial­wis­senschaften selb­st blieben seine Arbeit­en immer Gespräch­s­the­ma, doch nie unum­strit­ten; gele­gentlich wur­den ihm sog­ar Linkslastigkeit und Mod­ernismus vorge­wor­fen. 1970 wech­selte er an die neuge­grün­dete Uni­ver­sität Biele­feld, die er mit instal­liert hat­te und wo er eine eigene Fakultät für Sozi­olo­gie durch­set­zte. Im Kli­ma der kul­tur­rev­o­lu­tionären Ver­schiebun­gen an den Uni­ver­sitäten began­nen bald heftige Auseinan­der­set­zun­gen mit Stu­den­ten, dann Kol­le­gen. Ver­bit­tert zog sich Schel­sky 1973 wieder nach Mün­ster zurück, wo er auf einem Lehrstuhl für Rechtssozi­olo­gie über­dauern durfte. Von da an startete er seine polemis­che Kam­pagne als „Anti-Sozi­ologe“ gegen den linken Zeit­geist; alle­samt Pub­lika­tio­nen, die umge­hend in die Best­stellerlis­ten gelangten, doch fand er beim akademis­chen Pub­likum nur mehr wenig Gehör. Resig­niert zog er sich nach der Emer­i­tierung 1978 in sein Alters­dom­izil im Bur­gen­land zurück. In Wien war er Gast­pro­fes­sor, die Uni­ver­sität Graz machte ihn zum Hon­o­rarpro­fes­sor.

Schel­skys Werk ist von der Frage bewegt, wie soziale Sta­bil­ität und his­torisch­er Wan­del in ein gutes Ver­hält­nis gebracht wer­den kön­nen. Die Insti­tu­tio­nen der Bun­desre­pub­lik – die Fam­i­lie, die soziale Mark­twirtschaft, der Rechtsstaat, das Bil­dungssys­tem, die Kirchen, der Par­la­men­taris­mus etc. – waren deshalb für ihn ein schützenswertes Gut, weil sie ein­er­seits Erfahrungswis­sen auf­be­wahrten, ander­er­seits Raum für Erken­nt­nis und Meis­terung neu auf­tauchen­der Prob­leme boten und damit per­sön­liche und kollek­tive Weit­er­en­twick­lung ermöglicht­en.

Die Intellek­tuellen mit ihren utopis­chen Entwür­fen und Kri­tiken gal­ten ihm als ein mit Herrschaft­sanspruch auftre­tender neuer Klerus, der das Bewusst­sein der abhängig arbei­t­en­den Bevölkerung zu manip­ulieren ver­suche und einen neuen Typus von Unter­tan, den „betreuten Men­schen“ her­vor­bringe. Auf der Strecke bliebe die abendländis­che Idee der freien Per­son.

Schel­sky starb am 24. Feb­ru­ar 1984 in Mün­ster.

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Zitat:

Eine qua­si-religiöse Glauben­sh­errschaft kann in mod­er­nen Staat­en nur noch zum Zuge kom­men, wenn Ratio­nal­ität selb­st zu einem Glaubensin­halt umgew­ertet und ihre Anwen­dung zu einem Herrschaftsmonopol ein­er bes­timmten Gruppe wird.

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Schriften:

  • Thomas Hobbes. Eine poli­tis­che Lehre, 1939 (Berlin 1981)
  • Die skep­tis­che Gen­er­a­tion. Eine Sozi­olo­gie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957
  • Orts­bes­tim­mung der Sozi­olo­gie, Düsseldorf/Köln 1959
  • Der Men­sch in der wis­senschaftlichen Zivil­i­sa­tion, Köln/Opladen 1961
  • Ein­samkeit und Frei­heit. Die deutsche Uni­ver­sität und ihre Refor­men, Ham­burg 1963
  • Auf der Suche nach Wirk­lichkeit. Gesam­melte Auf­sätze, Düsseldorf/Köln 1965
  • Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priester­herrschaft der Intellek­tuellen, Opladen 1975
  • Der selb­ständi­ge und der betreute Men­sch, Stuttgart 1976
  • Die Hoff­nung Blochs. Kri­tik der marx­is­tis­chen Exis­ten­zphiloso­phie eines Jugend­be­wegten, Stuttgart 1979
  • Rück­blicke eines Anti-Sozi­olo­gen, Opladen 1981

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Lit­er­atur:

  • Horst Baier (Hrsg.): Frei­heit und Sachzwang. Beiträge zu Ehren Hel­mut Schel­skys, Opladen 1977
  • Horst Baier: Hel­mut Schel­sky – ein Sozi­ologe in der Bun­desre­pub­lik. Eine Gedächt­niss­chrift von Fre­un­den, Kol­le­gen und Schülern, Stuttgart 1986
  • Rain­er Waßn­er (Hg.): Wege zum Sozialen. 90 Jahre Sozi­olo­gie in Ham­burg, Opladen 1988
  • Rain­er Waßn­er: Autoren­porträt Hel­mut Schel­sky, in: Sezes­sion (2010), Heft 35