Der Mesner- und Küfersohn Martin Heidegger, geboren am 26. September 1889 Meßkirch, nahm sein Studium zunächst an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg auf und empfing von dem Dogmatiker Carl Braig, insbesondere durch den Hinweis auf Brentanos Arbeit Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, wesentliche Impulse. Die Promotion erfolgte mit einem zeitgenössisch üblichen Thema über die Urteilslehre im Psychologismus bei Heinrich Rickert, die Habilitation über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916). Im Jahr 1919 wurde Heidegger der Assistent Edmund Husserls. Er gab der Phänomenologie aber von Anfang an eine andere Wendung, löste sie aus der egologisch transzendentalen Engführung und rückte die temporale (an den Ekstasen der Zeit orientierte) und die ontologische Problematik ins Zentrum.
Heideggers frühe Freiburger Privatdozentenvorlesungen sicherten ihm bald einen weitreichenden Ruf. Jene „phänomenologischen Interpretationen“ setzten unter anderem beim religiösen Bewußtsein und der Zeitlichkeit der Naherwartung (Paulus, Augustinus, Luther) an, vor allem aber legten sie die Begriffs- und Erfahrungsdynamik der philosophischen Grundbegriffe der Ontologie von Aristoteles neu frei. Dies bedeutete Sprengung scholastischer Hüllen und wurde als Wiedergewinnung der originären Stimme der Philosophie wahrgenommen. Von hier her entwickelte Heidegger die „Kategorien der Existenz“: Verfallenheit, Ruinanz als Grundbewegung der Endlichkeit, der das Ethos, als Aufenthalt in der Welt entgegengesetzt wird. 1922 wurde Heidegger auf ein Extraordinariat in Marburg berufen. Im Zusammenhang der Versuche, ihn dort als Nachfolger des Neukantianers Nicolai Hartmann zu installieren, wurde Heidegger eine neue größere Veröffentlichung nahegelegt.
Sein erstes Hauptwerk, Sein und Zeit (1927) versteht Heidegger als Fundamentalontologie, als Neuaneignung der Frage nach dem Sein, wobei die Seinsfrage an dem Seienden zu entfalten ist, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht: dem menschlichen Dasein in seiner Endlichkeits- und Sorgestruktur. Heidegger entwickelt damit ein Denken, das von vorneherein über die neuzeitlich-cartesianische Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt hinausgeht und menschliches Dasein als immer schon Sein bei einer Welt deutet.
1929 auf Husserls einstigen Lehrstuhl nach Freiburg i.Br. berufen, wurde Heidegger am 21. April 1933 zum Rektor der Freiburger Universität gewählt. Am 27. Mai desselben Jahres hielt er dort seine berühmte Rektoratsrede über die „Selbstbehauptung der deutschen Universität“. Der im Kern seines Denkens nicht politische Heidegger sah das Jahr 1933 unstrittig als Stunde eines nationalen Aufbruchs, die geistige Führung erfordere. Deshalb appelliert er an „die Gefolgschaft der Lehrer und Schüler“ aus „der gemeinsamen Verwurzelung in der deutschen Universität“.
Im einzelnen ist die Rektoratszeit aus kontingenten Gründen wenig glanzvoll verlaufen, Heidegger trat schon im April 1934 von dem Amt zurück. Seine großen Vorlesungen der späten dreißiger und der vierziger Jahre gerieten zu einer Auseinandersetzung mit der „Machenschaft“, von der, wie er erkennt, die NS-Ideologie und der ideologische Weltbürgerkrieg ein Teil sind. Heidegger wandte sich von dem unmittelbar politischen Zusammenhang schon 1933 ab und entfaltet die Zwiesprache von erstem metaphysischem Anfang des Denkens, der nun an sein Ende gekommen sei, und dem anderen Anfang des Seins, wobei er Nietzsche und den deutschen Idealismus als Übergangsgestalten ausmacht. Diesen anderen Anfang, der bei der Wahrheit des Seins, dem Zusammenhang von Physis und Aletheia, ansetzt und in der Dichtung Hölderlins bewahrt bleibt, entwickelt Heidegger im Blick auf die Vorsokratiker und auf die Dichtung, vor allem auf Hölderlin. Dabei wird auch die Spannung zwischen dem Eigenen und dem nächsten Anderen, Griechischen sichtbar: aus dieser Fremde ins Eigene zurückzukehren, sei das Schwerste.
In den Jahren 1936–1938 arbeitete Heidegger sein zweites, esoterisches Hauptwerk Die Beiträge zur Philosophie aus, dessen Wegbahn nicht mehr fundamentalontologisch, sondern aus der Struktur und Geschichtlichkeit des Seins zu denken sucht. Diese Denkbewegung beschreibt in Heideggers Selbstverständnis eine „Kehre“ der fundamentalontologischen Frage. Der von Nietzsche diagnostizierte europäische Nihilismus, der „unheimlichste aller Gäste“, ist dabei das Gegenüber. Im Brief über den Humanismus, der Antwort auf Sartres Diktum, daß der Existentialismus ein Humanismus sei, und in den Bremer und Freiburger Vorträgen der frühen fünfziger Jahre gibt Heidegger Einblicke in diese Denkbahnen. Nicht im Humanismus, sondern in einer Gelassenheit, die sich aus der Nachbarschaft des Menschen zu Sein und Sprache eröffnet, sieht Heidegger den Ausgang ins Offene. Er muss sich, wie er in seiner Frage nach dem metaphysischen Wesen der Technik nun erkennt, gegenüber dem planetarischen „Gestell“ und der Seinsverlassenheit bewähren. Auch der Nationalsozialismus und seine eigene Verstrickungsgeschichte erscheinen damit als Teil dieser Irrnis und totalen Seinsvergessenheit.
Heideggers Feldweg-Gespräche antworten am Ende des Zweiten Weltkriegs, als der Sohn Hermann in russischer Kriegsgefangenschaft vermißt ist, auf die deutsche und europäische Katastrophe. Sie beschreiben eine geschichtliche Krisis und Inkubationszeit, verstehen sich als „Warten auf die Zusage des Wahren“ und als Rückbegründung in das Ethos Europas. Heidegger verweist indes darauf, daß Deutschland nicht untergehen könne, weil es noch nicht aufgegangen sei.
Der Blick des späteren Heidegger gilt dann dem Wesen der Technik, und er formuliert, anders als der von ihm wenig geschätzte Günter Anders, keine Technikkritik. Vielmehr zeigt er, wie aus der „Gefahr“ des technischen Gestells die Rettung des menschlichen Aufenthaltes gewonnen werden könnte. Die Verortung des Seins in ihrem „Haus“, der Sprache und in der Einfachheit des „Dings“, an dem, wie an den Bauernschuhen van Goghs eine Welt aufgeht, wird ein weiteres Grundthema des späten Heidegger. Er entwickelt damit die Arkana eines Denkens jenseits der Fragerichtung überlieferter Philosophie, das zu einer – verborgenen (lanthanontischen) Widerständigkeit gegenüber dem globalen Weltalter führen kann und darin in seiner Absage an alle Politik hochpolitisch ist. Moralisierende, externe Schuldzuweisungen, wie sie das Problematon „Heidegger und der Nationalsozialismus“ nachhaltig bestimmen und in regelmäßigen Abständen wiederholt werden, müssen hinter Heideggers Denken und seinem Anspruch weit zurückbleiben.
Heidegger verstarb am 26. Mai 1976 in Freiburg i.Br.
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Zitat:
Immer wenn Kunst geschieht, d.h., wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an. Geschichte meint hier nicht die Abfolge irgendwelcher und sei es noch so wichtiger Begebenheiten in der Zeit. Geschichte ist die Entrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Entrückung in sein Mitgegebenes.
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Schriften:
- Gesamtausgabe, Frankfurt a.M. 1975ff (auf 102 Bände angelegte Ausgabe letzter Hand)
- Sein und Zeit. Erste Hälfte, Halle 1927
- Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929
- Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, Breslau 1933
- Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 1944
- Holzwege, Frankfurt a.M. 1950
- Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953
- Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954
- Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959
- Nietzsche. 2 Bde, Pfullimngen 1961
- Wegmarken, Frankfurt a.M. 1967
- Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a.M. 1989
- Feldweg-Gespräche, Frankfurt a.M. 1995
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Literatur:
- Walter Biemel: Martin Heidegger, Reinbek 1973
- Thomas Rentsch: Martin Heidegger — Das Sein und der Tod. Eine kritische Einführung, München 1989
- Harald Seubert: Zwischen erstem und anderem Anfang. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens, Weimar/ Köln/ Wien 2000
- Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2003