Die Anfänge der allgemeinen Schulpflicht liegen im 16. Jahrhundert. Um den ersten Platz streiten sich die Grafschaft Ostfriesland und das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken. Nachdem die Reformation bereits seit 1519 in Ostfriesland Einzug gehalten hatte, erließ Graf Enno II. von Ostfriesland 1529 und 1539 Kirchenordnungen, nach denen jedermann angehalten war, seine Kinder zur Schule zu schicken. Nach seinem frühen Tod setzte seine Witwe, Gräfin Anna, diese Bestrebungen fort und erließ 1545 eine Polizeiordnung, aus der die Verpflichtung zum Schulbesuch hervorging.
Im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken wurde 1592 im Rahmen der neuen Synodalordnung eine allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen eingeführt. Die Bedeutung dieser beiden Schulpflichterlasse ist nicht besonders gut erforscht, und sie scheinen auch keine größere Vorbildwirkung entfaltet zu haben. Ähnlich liegt der Fall in Württemberg, wo die Kirchenordnung seit 1559 eine Schulpflicht enthielt, die allerdings nur für Jungen galt.
Allen gemeinsam ist die Reformation als der entscheidende Auslöser für das Streben nach einer allgemeinen Volksschulbildung, da hier die Forderung laut wurde, allgemeine Schulen für Jungen und Mädchen einzurichten. Grundlegend war Martin Luthers Schrift An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524). Diese Forderung fand naturgemäß in den protestantischen Landesteilen Gehör, also in den evangelischen Reichsstädten und in den lutherischen Fürstentümern, in denen der Landesherr als Christ und Regent für das zeitliche und ewige Heil der Untertanen sorgen mußte.
Bei den ersten weltlichen Schulordnungen in Weimar (1619) und Gotha (1642) überlagerten sich dementsprechend religiöse und staatspolitische Motive. Der Weg zur Schulpflicht als staatlicher Institution war damit jedoch begonnen, wird allerdings erst in letzterer ausdrücklich verordnet: “Die Kinder sollen jedes Orths alle, keines ausgenommen, Knaben und Mägdlein das gantze Jahr stets nach einander in die Schule gehen, ohne allein in der Erndte, da man ihnen vier Wochen, deßgleichen uff die Kirchmessen etliche Tage sol feyer geben.”
Auch an die Sanktionierung wurde gedacht: “Da auch ein Mangel an den Eltern oder Kindern fürfället, also, daß auch nur eine einige Stunde vorsetzlich verseumet würde, so sollen die Schulmeister solches alsobalden ihren Pfarrern anzeigen, und alsdaß, so viel sie betrifft, dißfals entschuldiget, im wiedrigen aber, wie jetzt gedacht, der bestraffung gewärtig seyn.”
Die Schulordnung, der „Gothaische Schulmethodus“, geht auf den Pädagogen und Leiter des Gothaer Gymnasiums, Andreas Reyher, zurück, der im Auftrag Herzogs Ernst I. (des Frommen) das Schulwesen im Herzogtum Sachsen-Gotha reformierte. Der „Schulmethodus“ gilt als weltweit erste kirchenunabhängige Schulordnung, die eine ausdrückliche Schulpflicht enthält. Ihr vollständiger Titel lautete: “Special- und sonderbahrer Bericht, wie nechst Göttlicher verleyhung die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften und in den Städten die unter dem untersten Hauffen der Schul-Jugend begriffene Kinder im Fürstenthumb Gotha kurtz und nützlich unterrichtet werden können und sollen.”
Neben den Schulgesetzen sorgte Reyher sich um die Methodik des Unterrichts und die Ausbildung der Lehrer. Die Volksbildung ist seitdem auch nicht mehr auf Bibellektüre und das Singen geistlicher Lieder beschränkt, sondern sollte zunehmend auch naturwissenschaftliches und staatsbürgerliches Wissen vermitteln. Der Erfolg strahlte auf ganz Europa aus, so daß irgendwann das Sprichwort aufkam, daß des Herzogs Bauern gebildeter seien als die Herzöge in anderen Gegenden.
Von ähnlicher Bedeutung ist nur noch die Entwicklung in Preußen. Hier erließ Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, am 28, September die Principia regulativa, die Friedrich der Große 1763 für ganz Preußen durch das Generallandschulreglement bestätigte. Ein berühmtes Beispiel für die Umsetzung, die dem jeweiligen Grundherrn oblag, ist Friedrich Eberhard von Rochow, der in Reckahn bei Brandenburg an der Havel nicht nur eine vorbildliche Schule gründete, sondern auch ein vielgebrauchtes Schulbuch herausgab und den Mathematikunterricht selbst erteilte.
Wenn heute immer wieder zu lesen ist, daß es sich dabei um Absichtserklärungen handelte, da die materiellen Voraussetzungen lange fehlten, um die Schulpflicht auch flächendeckend durchzusetzen (was insbesondere in Preußen der Fall war), schmälert das keineswegs den Wert solcher Verordnungen. Diese haben einen Standard geschaffen, ohne den die Alphabetisierung, die um 1914 gegen hundert Prozent ging, undenkbar gewesen wäre: die Volksschule als öffentliche, unentgeltliche, allgemeinbildende, muttersprachliche Pflichtschule für alle Deutschen, gleich welchen Standes, Geschlechts oder Konfession bzw. Religion.
Die Schulpflicht nahm und nimmt auch den Staat in die Pflicht, für die Voraussetzungen zu sorgen. Wenn früher die materiellen Voraussetzungen ein Problem waren, so sind es heute die inhaltlichen. Methodenkonfusion, Neuerungswahn, Ideologisierung und ein falsches Menschenbild haben in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, daß die Schulpflicht zunehmend in die Kritik geraten ist. Damit verliert eine Institution an Rückhalt, für die bis heute die Worte Eduard Sprangers aus dem Jahr 1949 gelten: „Die Kulturhöhe, zu der ein Volk sich emporgearbeitet hat, ist nicht nach einzelnen Spitzenleistungen zu messen, sondern nach dem breiten und sicheren Fundament der allgemeinen Volksbildung, auf dem die Pyramide des Unterrichtswesens ruht.“
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Literatur:
- Tobias Handschell: Die Schulpflicht vor dem Grundgesetz, Baden-Baden 2012
- Eduard Spranger: Zur Geschichte der Deutschen Volksschule, Heidelberg 1949
- Beiträge zur Schulgeschichte Ostfrieslands, 4 Bde., Oldenburg 2001–2010