1876 — Die Bayreuther Festspiele werden eröffnet

Die namhaften Opern­büh­nen der Welt, wie die Mailän­der Scala oder die Met­ro­pol­i­tan Opera in New York, führen stets Werke ver­schieden­er Kom­pon­is­ten auf. Keinem der bedeu­tend­sten Kom­pon­is­ten der Musikgeschichte, wed­er Bach, Hän­del, Mozart, Beethoven noch Ver­di, war es vergön­nt, daß sich ein Haus jen­seits spezieller Fes­ti­vals einzig und allein seinem Werk wid­met. Im Bayreuther Fest­spiel­haus wer­den jedoch auss­chließlich Werke von Richard Wag­n­er insze­niert (mit Beethovens 9. Sin­fonie als promi­nen­ter Aus­nahme), ein Alle­in­stel­lungsmerk­mal, das sich durch einen Man­gel an Beschei­den­heit auf seit­en des Kom­pon­is­ten erk­lärt wie auch durch die Werk­spez­i­fik selb­st, durch Wag­n­ers kat­e­gorien­spren­gen­den Anspruch des Gesamtkunst­werks.

Der konkrete Aus­gangspunkt für den Bau des Bayreuther Fest­spiel­haus­es (April 1872 bis Som­mer 1875) war Wag­n­ers Kri­tik an den kün­st­lerischen Bedin­gun­gen und Möglichkeit­en der deutschen Opern­häuser sein­er Zeit. Entsprechend nahm Wag­n­er selb­st Ein­fluß auf die Bayreuther Konzep­tion, auf die Arbeit­en des Architek­ten Otto Brück­wald und des The­atertech­nikers und Büh­nen­meis­ters Carl Brandt. Die Schaf­fung ide­al­er äußer­er Voraus­set­zun­gen für Raum, Bühne und Klang sowie die exk­lu­sive und detail­lierte Konzen­tra­tion auf die Ein­studierung von Wag­n­ers Werk führten zu ein­er hohen kün­st­lerischen Qual­ität.

Wag­n­ers Pro­jekt des eige­nen Fest­spiel­haus­es muß dabei im Kon­text der Erar­beitung des Rings des Nibelun­gen gese­hen wer­den. Während der Abfas­sung der vierteili­gen Dich­tung, beste­hend aus Das Rhein­gold, Die Walküre, Siegfried und Göt­ter­däm­merung, in den Jahren 1848 bis 1852 wurde ihm zunehmend bewußt, wie sehr seine Ideen, eher an antike For­men anschließend, über die aktuelle The­ater­si­t­u­a­tion hin­aus­führten. In der Kon­se­quenz schwebte ihm schon in dieser Zeit ein drama­tis­ches Fest­spiel vor, um sein ger­ade im Entste­hen begrif­f­enes Opus mag­num an vier aufeinan­der­fol­gen­den Tagen aufzuführen.

Mehr als 20 Jahre später kon­nte Wag­n­er seine Idee real­isieren, wobei zahlre­iche, hier nur angedeutete Fak­toren von Bedeu­tung waren: Seit 1864 war Wag­n­er mit Lud­wig II., dem König von Bay­ern, befre­un­det; 1870 heiratete Wag­n­er die Tochter von Franz Liszt, Cosi­ma; 1871 besuchte das Ehep­aar erst­mals das im Nor­den Bay­erns gele­gene Bayreuth; Lud­wig II. beteiligte sich nicht unwesentlich an der Finanzierung des Fest­spiel­haus­es; im April 1874 bezo­gen Richard und Cosi­ma Wag­n­er die Vil­la Wah­n­fried, gle­ich­falls von Lud­wig II. finanziert; die eigentliche Kom­po­si­tion des Rings des Nibelun­gen wurde im Novem­ber 1874 abgeschlossen.

Die Eröff­nung der Fest­spiele am 13. August 1876 war iden­tisch mit dem Beginn der Urauf­führung des Rings, dirigiert von Hans Richter, insze­niert von Wag­n­er und Richard Fricke. Zwar waren Das Rhein­gold und Die Walküre bere­its 1869/70 uraufge­führt wor­den, jet­zt erk­lan­gen sie aber erst­ma­lig im Gesamtzusam­men­hang des Werks. Alles in allem ein enormer organ­isatorisch­er Kraftakt, war der Tag zweifel­los Richard Wag­n­ers größter, umjubel­ter Tri­umph: “Noch nie hat­te es in der Geschichte der Musik etwas Ver­gle­ich­bares gegeben, nie wird es etwas Ver­gle­ich­bares geben”, schreibt Fred­er­ic Spotts. “In der Ver­gan­gen­heit hat­ten Kom­pon­is­ten Köni­gen ihre Rev­erenz erwiesen, jet­zt erwiesen Könige dem Kom­pon­is­ten die Ehre […]. Unter ihnen befand sich Kaiser Wil­helm [I.], König Lud­wig [II.], Kaiser Dom Pedro II. von Brasilien, der König von Würt­tem­berg, der Großher­zog von Sach­sen-Weimar, der Großher­zog von Schw­erin, der Her­zog von Anhalt und der Großher­zog Vladimir von Ruß­land wie auch aller­lei deutsche Prinzen, Prinzessin­nen, Grafen und Gräfinnen zusam­men mit ein­er Ver­samm­lung öster­re­ichisch-ungarischen Adels. Anton Bruck­n­er, Edvard Grieg, Peter Tschaikows­ki, Saint-Sa‘ns und Liszt waren genau­so anwe­send wie die Leit­er und Diri­gen­ten aller deutsch­er Opern­häuser und unge­fähr sechzig Musikkri­tik­er.” Sie alle wohn­ten einem „der großen Augen­blicke der Kul­turgeschichte schlechthin“ bei.

Die Gesamtheit aus zwin­gen­der Vision, musikalisch-kün­st­lerisch­er Fasz­i­na­tion, inno­v­a­tivem Anspruch und der durchgängi­gen Ver­woben­heit des Wag­n­er­schen Gesamtwerks mit ger­man­isch-deutschen Stof­fen ließ „Bayreuth“ sei­ther zu einem Zen­trum nationaler Kul­tur, zu einem nationalen Phänomen wer­den, das nicht allein musikalisch erschlossen wer­den kann.

Nach dem Tod Richard Wag­n­ers 1883 war es Cosi­ma, die, als neue Fest­spiellei­t­erin das Erbe mehr als zwanzig Jahre vertei­di­gend und ver­wal­tend, selb­st Opern insze­nierte und den typ­is­chen, auf frühen Ton­doku­menten gut doku­men­tierten Bayreuth-Stil mitzuen­twick­eln ver­stand, der sich streng an Wag­n­ers Vorstel­lun­gen und seinen Anweisun­gen in den Par­ti­turen ori­en­tierte. Jen­seits der ästhetis­chen, musik­drama­tis­chen Dimen­sion besaß das Phänomen „Bayreuth“ aber von Beginn an auch eine starke weltan­schaulich-poli­tis­che Kom­po­nente, die sich eben­falls über Cosi­ma Wag­n­er und den sie umgeben­den „Bayreuther Kreis“ bes­tim­men läßt. Neben ihren Schwiegersöh­nen Hen­ry Thode und Hous­ton Stew­art Cham­ber­lain, der von 1909 bis zu seinem Tod 1927 in Bayreuth lebte, gehörten diesem Kreis noch Carl Friedrich Glase­napp, Hans von Wol­zo­gen und Lud­wig Sche­mann an; sie einte, u.a. vor dem Hin­ter­grund ein­er inten­siv­en Rezep­tion der The­o­rien Arthur de Gob­ineaus, eine kul­tisch-verehrende Sicht auf Wag­n­er und eine daraus gespeiste elitäre, nation­al­is­tis­che und anti­semi­tis­che Inter­pre­ta­tion des Werks „des Meis­ters“.

Zunehmend herzkrank, hat­te sich Cosi­ma zum Jahreswech­sel 1906/07 von der Leitung der Fest­spiele zurück­ge­zo­gen, so daß der Wag­n­er-Erbe, der gemein­same Sohn Siegfried, selb­st ein hochbe­gabter und kreativ­er Opernkom­pon­ist und mit­tler­weile auch erfahren als Regis­seur, Büh­nen­bild­ner und Diri­gent, diese Funk­tion bis zu seinem Tod 1930 über­nahm. Der weltof­fene Siegfried set­zte inszena­torische und stilis­tis­che Inno­va­tio­nen durch und hielt sich, selb­st gewiß kein lib­eraler Demokrat, weitest­ge­hend aus der Poli­tik her­aus. Es war Cham­ber­lain, der am deut­lich­sten den Über­gang jenes Bayreuther Weltan­schau­ungskom­plex­es der Jahrhun­der­twende hin zur Unter­stützung des Nation­al­sozial­is­mus in den 1920er Jahren per­son­ifizierte, ein Prozeß, an dem nicht die zurück­ge­zo­gen lebende Cosi­ma, son­dern, als Vertreterin der näch­sten Gen­er­a­tion, Siegfrieds Frau Winifred Anteil hat­te, die eng mit Adolf Hitler befre­un­det und seit 1926 NSDAP-Mit­glied war.

Als Winifred die Fest­spielleitung nach Siegfrieds Tod antrat, schuf die gegen­seit­ige Iden­ti­fika­tion Hitlers mit Richard Wag­n­ers Werk und Winifreds mit dem Nation­al­sozial­is­mus eine unheilige Allianz. Auch wenn das Niveau unter dem ihr noch von Siegfried emp­fohle­nen kün­st­lerischen Leit­er Heinz Tiet­jen gehal­ten wurde und die Fest­spiele nicht zu einem ober­fläch­lichen Pro­pa­gandain­stru­ment verka­men, insze­nierten und legit­imierten sich Hitler und der Nation­al­sozial­is­mus bis 1944 gle­ich­wohl gezielt durch „Bayreuth“, durch die Bayreuther Motivik und deren Assozi­a­tion­sraum. „Am 9. August 1944 war die let­zte Auf­führung der Meis­tersinger, die“, so Brigitte Hamann, „die let­zte Oper­nauf­führung im Drit­ten Reich über­haupt sein sollte.“ Gegen Kriegsende wurde Wah­n­fried bei Bombe­nan­grif­f­en beschädigt, das Fest­spiel­haus blieb ver­schont.

Mit Beethovens 9. Sin­fonie unter Wil­helm Furtwän­gler und dem Par­si­fal unter Hans Knap­perts­busch wur­den die Bayreuther Fest­spiele 1951 wieder­eröffnet, geleit­et von Siegfrieds und Winifreds Söh­nen Wieland und Wolf­gang Wag­n­er. Wieland baute 1949 sein eigenes Wohn­haus direkt in die Ruine Wah­n­frieds hinein und zer­störte damit auch noch intakt gebliebene Teile des Gebäudes. Mit einem schulemachen­den, anti­nat­u­ral­is­tis­chen Insze­nierungsstil brach Wieland demon­stra­tiv mit den Jahrzehn­ten zwis­chen 1876 und 1944. „Bayreuth“ wurde aber­mals zu einem Anziehungspunkt für alle namhaften Sänger, Diri­gen­ten und Regis­seure. Nach Wielands frühem Tod 1966 ver­ant­wortete Wolf­gang Wag­n­er die Fest­spiele mehr als vier Jahrzehnte lang allein bis 2008. In seine Zeit fiel 1976 der von Patrice Chèreau insze­nierte und Pierre Boulez dirigierte „Jahrhun­der­tring“. Mit Katha­ri­na Wag­n­er als Fest­spiellei­t­erin set­zt mit­tler­weile die Gen­er­a­tion der Urenkel Richard Wag­n­ers die Fam­i­lien­tra­di­tion fort.

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Lit­er­atur:

  • Dieter Borch­mey­er: Richard Wag­n­er. Werk — Leben — Zeit, Stuttgart 2013
  • Brigitte Hamann: Winifred Wag­n­er oder Hitlers Bayreuth, München 2002
  • Oliv­er Hilmes: Her­rin des Hügels. Das Leben der Cosi­ma Wag­n­er, München 2007
  • Fred­er­ic Spotts: Bayreuth. Eine Geschichte der Wag­n­er-Fest­spiele, München 1994