507 — Chlodwig I. läßt die Lex Salica verfassen

Es sind durch­weg ern­ste Mienen, die auf ein­er bildlichen Darstel­lung aus dem 14. Jahrhun­dert zu sehen sind: „Chlod­wig dik­tiert die Lex Sal­i­ca“, so ist die Zeich­nung in den Chroniken von St. Denis unter­schrieben. Zu sehen ist der fränkische König, umgeben von einem hal­ben Dutzend Beamter und einem Schreiber bei der Arbeit.

Offen­bar erscheinen Chlod­wig in den Jahren 507 bis 511 Zeit und Gele­gen­heit gekom­men, um der mil­itärisch-außen­poli­tis­chen Fes­ti­gung des Reich­es durch erfol­gre­ich geführte Kriege nun­mehr auch die innere Kon­so­li­dierung fol­gen zu lassen. Mit der Ver­schriftlichung der „pactus legis sal­i­cae“, kurz Lex Sal­i­ca, läßt er alte ger­man­is­che und bis dahin auss­chließlich mündlich über­lieferte Rechts­gepflo­gen­heit­en der Sal­franken erst­mals aufze­ich­nen und als „Stammes­recht der Franken“ fes­tle­gen. Es ist nicht nur seine Macht als Geset­zge­ber, die der König mit diesem Schritt sowie mit der Ein­führung neuer königlich­er Son­der­rechte man­i­festiert. Auch fügt sich die Aus­fer­ti­gung in die Inte­gra­tionspoli­tik ein, welche die gesamte Regentschaft Chlod­wigs charak­ter­isiert. Let­ztere scheint insofern geboten, als sich im geein­ten und expandierten Franken­re­ich sowohl hei­d­nis­ches Gewohn­heit­srecht, schriftliche römis­che Recht­snor­men und neuerd­ings christliche Wertvorstel­lun­gen nebeneinan­der find­en.

Mit der Lex Sal­i­ca ver­sichert sich Chlod­wig ein­er­seits der Akzep­tanz seines König­tums bei den ger­man­is­chen Stäm­men, die ihr „altes Volk­srecht“ in der Festschrei­bung wiederfind­en. Ander­er­seits sehen die — noch in deut­lich­er Minorität befind­lichen — Roma­nen im Reich die Geset­zge­bung der römis­chen Kaiser repräsen­tiert, wen­ngle­ich die ger­man­isch-altertüm­liche Prä­gung in der Rechtssamm­lung dominiert. Dies wiederum macht das Geset­zeswerk für das Handw­erk der Geschichtswis­senschaft zu ein­er wichti­gen Infor­ma­tion­squelle, die über den konkreten rechtlichen Inhalt hin­aus Auf­schluß über die tat­säch­liche ger­man­is­che Lebenswelt jen­er, anson­sten an Quellen armen Zeit gibt.

Was aber ist der Inhalt des „ersten deutschen Geset­zbuchs“? Struk­turell lassen sich in der Samm­lung kat­a­logähn­lich ange­ord­nete Bußti­tel und Kon­sti­tu­tio­nen unter­schei­den. Erstere dienen in diesem Zusam­men­hang der Friedenser­hal­tung und Recht­sor­d­nung, ähneln in Teilen allerd­ings auch dem Süh­nerecht. So wer­den bes­timmten Geset­zesver­stößen fest­gelegte Geld­strafen zuge­ord­net. „Wer ein zwei­jähriges Schwein stiehlt, soll 15 Schillinge zusät­zlich zum Wert­er­satz und Weigerungs­geld zahlen“, heißt es etwa. In den „Genuß“ der Sank­tio­nen durch Geld­bußen kom­men auss­chließlich Freie. Unfreie dage­gen wer­den mit Kör­per­strafen wie Hieben oder Ruten­schlä­gen und in weni­gen Fällen sog­ar mit dem Tod bestraft. Als ein Para­me­ter für das Straf­maß dient die Frage, um wen es sich bei Täter und Geschädigtem han­delt: So ste­ht auf Ermor­dung eines „Römers“, also eines Gal­loro­ma­nen, eine Geld­strafe in Höhe von 100 Schillin­gen, während die Tötung eines freien Franken in dop­pel­ter Höhe mit 200 Schillin­gen geah­n­det wird. Wiederum höher ste­ht die Gruppe der gal­loro­man­is­chen „Tis­chgenossen“ (Mit­glieder des Hofes) des Königs mit 300 Schillin­gen, während das höch­ste Süh­negeld von 600 Schillin­gen für die Tötung von Mit­gliedern des unmit­tel­baren Gefolges des Königs zu entricht­en ist. Auch der Straftatbe­stand der Belei­di­gung kann erfüllt wer­den: Am teuer­sten wird mit 45 Schillin­gen die Ver­wen­dung des Wortes „Hure“.

Die Kon­sti­tu­tio­nen dienen in diesem Zusam­men­hang der Sicherung des Rechtsweges. So wird beispiel­sweise bere­its — als frühe Vor­läufer von Ziv­il- wie Straf­prozeßord­nung — die Ver­fahrensweise bei Prozessen geregelt. Lange Zeit wirken noch die durch die Lex Sal­i­ca fest­geschriebe­nen Bes­tim­mungen zum Erbrecht nach. In Anlehnung daran wird später in vie­len europäis­chen Herrscher­häusern die Thron­folge so fest­gelegt, daß Frauen nicht die Kro­ne erben kön­nen, selb­st dann nicht, wenn keine männlichen Erben existierten: „In ter­ram sali­cam mulieres ne suc­cedant.“

Der Auss­chluß der Frauen von der Erb­folge wird heute oft als das Salis­che Recht schlechthin ver­standen, obwohl sie in dieser Form erst in der zweit­en Hälfte des 14. Jahrhun­derts erst­mals ver­wen­det wird. Da näm­lich gilt es zu legit­imieren, daß 1317 Philipp V. unter Umge­hung der weib­lichen Erb­folge auf den franzö­sis­chen Thron gelangt. Dieser Erb­folgestre­it wird später eine der Ursachen für den Aus­bruch des Hun­dertjähri­gen Krieges. Und 1837 läutet die Tat­sache, daß das Salis­che Recht im Kön­i­gre­ich Han­nover gilt, das Ende der über ein Jahrhun­dert lang gel­tenden Per­son­alu­nion zwis­chen Großbri­tan­nien und Han­nover ein, weil Queen Vic­to­ria nur die britis­che, nicht aber auch die han­noveranis­che Kro­ne erben kann. Aus dem gle­ichen Grunde endet 1890 die Per­son­alu­nion zwis­chen dem Kön­i­gre­ich der Nieder­lande und dem Großher­zog­tum Lux­em­burg.

Gle­ich­wohl gilt die Bes­tim­mung in eini­gen Monar­chien und als Haus­recht in den meis­ten deutschen Adelshäusern bis heute fort. Andere Monar­chien, die das Salis­che Erbrecht über Jahrhun­derte anwandten, haben sich erst in jüng­ster Zeit ein­er direk­ten weib­lichen Thron­folge geöffnet, so etwa Schwe­den 1980, Bel­gien und Nor­we­gen 1991 und Großbri­tan­nien 2013.

Aus rechts­geschichtlich­er Sicht stellt die Lex Sal­i­ca den Über­gang zwis­chen Fehdewe­sen und herrschaftlich geregel­ter Rechts- und Frieden­sor­d­nung dar, bietet dem­nach eine zunehmende Rechtssicher­heit und kann als ver­hält­nis­mäßiges Novum und Fortschritt im Rechtswe­sen der jew­eili­gen Zeit betra­chtet wer­den — wen­ngle­ich es unter His­torik­ern strit­tig ist, inwiefern die jew­eili­gen Recht­s­texte über ihre bloße Exis­tenz hin­aus eine Rel­e­vanz im juris­tis­chen All­t­ag der Bevölkerung hat­ten und mit welch­er Kon­se­quenz sie Anwen­dung fan­den. Und doch: Nach dem Tod Chlod­wigs führten seine Söhne Childe­bert und Chlothar die Lex Sal­i­ca in ihren Reichen weit­er, nach­dem sie den bish­eri­gen 78 Titeln des Geset­zw­erkes noch 15 Titel beige­fügt hat­ten. Der dritte Sohn Theud­erich beschränk­te die Lex Sal­i­ca in seinem Reich offen­bar lediglich auf Gal­lien.

Als erste Erschei­n­ungs­for­men ein­er „poli­tis­chen Reli­giosität“ des frühen Mit­te­lal­ters bew­erten His­torik­er einen län­geren Pro­log der Lex Sal­i­ca, der im acht­en Jahrhun­dert in der Kan­zlei Pip­pins redigiert wurde. Dieser rühmt das erlauchte, durch Gott selb­st begrün­dete Franken­volk, weil es frei sei von Ket­zerei, tapfer das Joch der Römer abgeschüt­telt und die Reliquien der von den Römern gemarterten Heili­gen mit höch­ster Verehrung aufgenom­men habe. In der Geschichtswis­senschaft hat sich aus dieser Hal­tung die Fest­stel­lung abgeleit­et: Ein neues his­torisches Selb­st­be­wußt­sein war herangewach­sen.

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Lit­er­atur:

  • Hans-Achim Roll: Zur Geschichte der Lex-Sal­i­ca-Forschung, Aalen 1972
  • Ruth Schmidt-Wie­gand: Art. „Lex Sal­i­ca“, in: Reallexikon der Ger­man­is­chen Alter­tum­skunde 18, 2001, S. 326–332
  • Elmar See­bold: Zur Entste­hung der „Lex Sal­i­ca“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Lit­er­atur 129 (2007), S. 387–401