Bis ins Jahr 531 umfaßte das Königreich Thüringen die heutigen Städte Halle, Leipzig und Erfurt, nach Süden hin auch Würzburg sowie Nürnberg und ging ein gutes Stück südöstlich darüber hinaus. Drei Erben beherrschten es. Der fränkische Merowingerkönig Chlothar (dessen Vater Chlodwig als erster germanischer Herrscher zum nicht-arianischen Katholizismus übergetreten war) eroberte das Reich in der Schlacht an der Unstrut bei Burgscheidungen im Jahr 531. Radegunde/Radegundis als heidnische Tochter des Thüringerkönigs Berthachar gehörte zur Kriegsbeute. Chlothar brachte Radegunde nach Athies an der Somme (heute: 600 Einwohner) und ließ sie dort christlich unterweisen.
„Sie ergriff nicht bloß mit Inbrunst die christliche Lehre, sondern sie eignete sich auch die lateinische Sprache und Bildung an. Zur lieblichen Jungfrau erblüht, mußte sie zu Soissons Chlotachar [d.i. Chlothar, E.K.] ihre Hand reichen, der ebenso grausam und zügellos war wie die meisten Merowinger und thatsächlich in Vielweiberei lebte. Nur gezwungen schloß sie diese Ehe, die ihr keine Befriedigung gewähren konnte und bald bemerkte Chlotachar, daß er keine Königin, sondern eine Nonne zur Frau habe. Werke der christlichen Mildthätigkeit, mit der größten Hingebung ausgeübt, füllten ihre Stunden. Allem fürstlichen Aufwande, allem Schmucke völlig abgeneigt, lebte sie, soweit sie es verstohlen thun konnte, wie eine entsagende Büßerin und wurde schon am Hofe fast wie eine Heilige verehrt“ (Ernst Dümmler, 1888). Nachdem ihr Gatte ihren einzigen Bruder ermorden ließ, erreichte Radegunde durch Fürsprache des Bischofs Medardus die räumliche Trennung von Chlothar, ohne ihn als Gönner und Schutzherrn zu verlieren. Ihre eigenen Reichtümer verwendete Radegunde für den Bau eines großangelegten Frauenklosters bei Poitiers, dem nicht sie selbst als äbtissin vorstand, sondern ihre Ziehtochter Agnes.
Damit entstand aus den Händen einer Thüringerin um 558 das erste Frauenkloster Europas (im Orient, zunächst in Ägypten, hatte es Nonnenklöster bereits im 4. Jahrhundert gegeben). Die Ordensregel übernahm Radegunde von Caesarius von Arles, der sich vor allem für eine strenge katholische Orthodoxie und gegen den Semipelagianismus (die Ansicht, manche Menschen seien zum Bösen bestimmt) einsetzte. Bereits Caesarius’ Schwester hatte in Arles eine klösterliche Frauengemeinschaft gegründet.
Äußerste Askese und Selbstgeißelungen, wie sie später (etwa bei der hl. Jutta, der hl. Hedwig, der hl. Elisabeth und schließlich Simone Weil) geradezu als Insignien weiblicher Heiligkeit und geistiger Anstrengung verbreitet waren, prägten auch das Leben der Radegunde. Es wird berichtet, daß sie von Pflanzenkost und „Wasser mit etwas Honig“ lebte, auf einer dürftigen, mit Asche bestreuten Decke schlief und sich in der Fastenzeit gar körperliche Martern zufügte und sich darüber hinaus bis zur Selbstaufgabe Kranken widmete. Sogar Caesarius, der selbst als radikaler Asket galt, ermahnte Radegunde zur Mäßigung in ihren Frömmigkeitsübungen. Bei Radegundes Tod 587 lebten etwa 200 Töchter aus dem fränkischen Adel in dem Kloster. Es heißt, daß mit ihnen „ein wilder und trotziger Geist“ in die frommen Mauern eingezogen sei.
Rund tausend Jahre nach ihrem Tod (und genau zehn Jahre vor der Bartholomäusnacht) schändeten 1562 Hugenotten das Grab der Radegunde. Was an Reliquien gerettet werden konnte, dient heute der Verehrung am Wallfahrtsort, der Grabeskirche Sainte-Croix in Poitiers. In Frankreich wird die heilige Radegunde bis heute tief und an zahlreichen Orten verehrt, während entsprechende Stätten (oder Straßenbenennungen etc.) in ihrer Heimat Mitteldeutschland rar sind.
Die Kunde von Radegundes Leben und Werk verdanken wir zum einen Venantius Fortunatus, dem letzten römischen Dichter (540–600/610), zum anderen der Ordensschwetser Baudovinia, die Radegundes Vita um die Jahrhundertwende nach dem Tod der Heiligen niedergeschrieben hatte. Venantius, später Bischof von Poitiers, war „in ein geistliches und tadelloses Freundschaftsverhältniß inniger Art“ (Dümmler) zu Radegunde getreten, das wir uns gemäß des Schrifttums als edles Bratkartoffelverhältnis vorstellen dürfen: Sie kochte für ihn, er unterwies sie geistig und verfaßte Gesänge in ihrem Auftrag und gemäß ihrer Vision.
Sowohl Baudovinias als auch Venantius’ Hagiographie finden sich in den Monumenta Germaniae Historicae, die mittlerweile digitalisiert und frei abrufbar vorliegen.
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Literatur:
- Venantius Fortunatus: Vita sanctae Radegundis — Das Leben der heiligen Radegunde, Stuttgart 2008
- Dorothée Kleinmann: Radegunde. Eine europäische Heilige. Verehrung und Verehrungsstätten im deutschsprachigen Raum, Graz/Wien/Köln 2008