842 — Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche leisten die Straßburger Eide

Wenn Staatsmän­ner im Aus­land eine Geste des Respek­ts leis­ten wollen, dann hal­ten sie gerne eine Rede oder sagen wenig­stens ein paar Sätze in der Sprache des Gast­landes. Das ist im 21. Jahrhun­dert immer noch üblich, doch stand eine ähn­liche Geste bere­its am Anfang der europäis­chen Staats­geschichte. Als Urvater dieser Geschichte wird gern Karl der Große genan­nt, dem es gegen Ende des 8. Jahrhun­derts nach Chris­tus gelun­gen war, West- und Mit­teleu­ropa samt Nordi­tal­ien zu einem Herrschafts­ge­bi­et zu vere­ini­gen, dessen Chris­tian­isierung zu erzwin­gen und sich die Kaiserkro­ne zu sich­ern.

Das hat­te zahlre­iche Feldzüge und einige Mas­sak­er erfordert und damit war zum ersten, wenn auch nicht let­zten Mal ein Europa zusam­mengezwun­gen wor­den, das offen­sichtlich so nicht zusam­menge­hörte. Karl starb 814, und bere­its seine Enkel hiel­ten nicht ein­mal dreißig Jahre später die Zeit für die dauer­hafte Tren­nung gekom­men, die jet­zt erst eigentlich die Grund­lage für Europas Struk­turen der näch­sten 1200 Jahre leg­en sollte. 843 wurde das Reich Karls des Großen in Ver­dun geteilt.

Was nach außen hin wie eine gewöhn­liche Abmachung unter Feu­dal­herrsch­ern erscheinen kön­nte und heute oft als solche präsen­tiert wird, hat­te jedoch ein bemerkenswertes kul­turelles Vor­spiel. Ein Jahr vor dem Ver­trag von Ver­dun trafen sich im Jahr 842 in Straßburg die Brüder Karl, der später als „der Kahle“ in die Annalen eing­ing, und Lud­wig, der als „der Deutsche“ in Erin­nerung bleiben sollte. Bei­de leis­teten dabei vor den Gefol­gsleuten des jew­eils anderen einen Eid, und dies jew­eils in deren Lan­dessprache. Lud­wig sprach also bei dieser Gele­gen­heit alt­franzö­sisch und Karl althochdeutsch. Bekräftigt wur­den bei­de Ver­sprechen durch ihre schriftliche Fix­ierung, weshalb wir heute die Möglichkeit haben, sie nachzu­vol­lziehen.

Die Eid­formeln gehören zu den früh­esten Doku­menten bei­der Sprachen. Anson­sten wur­den Urkun­den und son­stige Schriften zu dieser Zeit vor­wiegend in Latein ver­faßt, und das sollte in den kom­menden Jahrhun­derten auch so bleiben. Naturgemäß gab und gibt es aus­führliche philol­o­gis­che Debat­ten über die Zuord­nung dieser weni­gen Worte in die all­ge­meine Entwick­lung der franzö­sis­chen und deutschen Sprache. Wie in vie­len anderen Fällen ist auch hier die Über­liefer­ung dünn. Das älteste erhal­tene „Orig­i­nal“ der immer wieder abgeschriebe­nen Eide scheint eine Hand­schrift aus dem 10. Jahrhun­dert zu sein, also immer­hin ein­hun­dert Jahre nach dem Ereig­nis.

An den Vorgän­gen selb­st gibt es heute keine Zweifel, wohl aber an deren Bedeu­tung. In einem Europa, das Mil­lio­nen aus­gibt, um seine Nation­al­staat­en zu dekon­stru­ieren, scheut man die großen Sym­bole aus deren Geschichte. Als mögliche Begrün­dung für die dama­lige Wahl der Volkssprache als Mit­tel der Ver­ständi­gung wird deshalb häu­fig der prak­tis­che Nutzen ange­führt. Die Befür­worter dieser These argu­men­tieren mit vielle­icht fehlen­den Sprachken­nt­nis­sen der höheren Vasallen bei­der Parteien. Da es auf jedes Wort ankam, hät­ten sie der Sache anders nicht fol­gen kön­nen. Allerd­ings hätte das die merk­würdi­ge Kon­se­quenz gehabt, daß die eige­nen Anhänger nicht ver­standen hät­ten, was ihr Anführer ger­ade der Gegen­seite ver­sprach. Obwohl es nicht ganz von der Hand zu weisen ist, scheint das unwahrschein­lich und oben­drein zu kurz gegrif­f­en zu sein.

In Straßburg began­nen let­ztlich die Nation­algeschicht­en Frankre­ichs und Deutsch­lands im engeren Sinn, als zwar christliche, aber kul­turell und poli­tisch voneinan­der zu unter­schei­dende Ein­heit­en. Es gibt eigentlich wenig Anlaß, an einem gewis­sen Bewußt­sein der Anwe­senden für die Trag­weite des Geschehens und für dessen kul­turell-sprach­liche Ursachen zu zweifeln. So kön­nen die Straßburg­er Eide als das begrif­f­en wer­den, was sie ver­mut­lich waren: eine zeit­lose Geste des Respek­ts vor dem, was gemein­sam ist und doch auseinan­derge­hal­ten wer­den sollte.

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Lit­er­atur:

  • Ernst Anrich: Die Straßburg­er Eide vom 14. Feb­ru­ar 842 als Mark­stein der deutschen Geschichte, Straßburg 1943
  • Andreas Beck: Die Straßburg­er Eide in der Frühen Neuzeit — Mod­ell­studie zu vor- und frühger­man­is­tis­chen Diskursstrate­gien, Wies­baden 2014