„Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen, soll in Wittenberg unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Vaters Martin Luther, Magister der Freien Künste und der heiligen Theologie sowie deren ordentlicher Professor daselbst, über die folgenden Sätze disputiert werden.“ Mit diesen Worten beginnt der Vorspruch zu den insgesamt 95 Thesen, die Luther am 31. Oktober 1517 (soviel ist gesichert) zur Diskussion stellte. Ob er sie wirklich an die nördliche Eingangstür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, ist bis heute nicht klar. Von diesem Vorgang berichtet zwar Luthers wichtigster Mitstreiter, Philipp Melanchthon, aber der war 1517 noch nicht in der Stadt zugegen. Luther selbst hat diesen Thesenanschlag nie bezeugt.
Tatsache ist, daß die 95 Lehrsätze von ihm einem ausgewählten Kreis zur Diskussion gestellt wurden, eine öffentliche Erörterung war nicht geplant. Luther sandte sie an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg sowie an die Universitäten Frankfurt, Leipzig und Erfurt. Doch es kam zu keiner Reaktion. Erzbischof Albrecht gab die Thesen Luthers nach Rom weiter und überließ die Entscheidung über ihre Richtigkeit dem Selbstlauf der päpstlichen Verwaltung. Im Gegensatz dazu breiteten sich die Thesen in Deutschland aus, „als ob die Engel vom Himmel Botenläufer gewesen wären“. Sie wurden vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt, 1517/18 in Leipzig, Basel und Nürnberg gedruckt. Worum ging es in diesen 95 Lehrsätzen?
Luther, Mönch des Augustinerordens, hatte zunächst in klösterlicher Abgeschiedenheit, später mit akademischem Eifer das Problem der göttlichen Gnade analysiert. Er rang sich zu der Ansicht durch, daß die Gerechtigkeit Gottes nicht durch gute Taten (Ausrichtung von Messen, fromme Gelübde, Fasten, kirchliche Feiertage, Pilgerfahrten etc.) zu erreichen sei, sondern nur durch die Gnade Gottes selbst geschenkt werde. Doch gerade das Erkaufen dieser Gnade war eine wichtige Einnahmequelle der Papstkirche. Legionen von Predigern zogen damals durch die Lande und stellten gegen klingende Münze sogenannte Ablaßbriefe (eigentlich „Vergebensurkunden“) aus, wonach eine Vergebung der Sünden erklärt wurde. Die menschliche Reue schien dadurch überflüssig, denn diese Ablaßbriefe, so ein zeitgenössischer Bericht, versprachen den Käufern, „daß sie wegen Ehebruch, Hurerei, Wucherei oder unrechtem Gut und dergleichen Sünden und Bosheit absolvieret [freigesprochen] sind“.
Dagegen behauptete Luther, es stehe nicht in der Macht des Papstes und seiner Kirche, Sünden und Strafen zu erlassen. Der Christenmensch könne das Heil nach Reue und Buße nur von Gott selbst erlangen. So heißt es in der These 21: „Deshalb irren jene Ablaßprediger, die sagen, daß durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und los werde.“
Seine Theorie lief darauf hinaus, daß eine Vermittlung der Kirche für das Seelenheil der Gläubigen nicht erforderlich sei, und das erregte großes Aufsehen — sowohl aufgrund der theologischen Sprengkraft als auch durch den Angriff auf die Verflechtungen der Kirche mit Macht- und Finanzpolitik. Luther war zu Ohren gekommen, daß der Gesamterlös des Ablaßhandels keineswegs, wie offiziell behauptet, in den Neubau des Petersdomes zu Rom floß, sondern Erzbischof Albrecht einen Großteil davon benutzte, um seine Schulden beim Bankhaus Fugger zu begleichen. Drastisch formuliert die 50. These: „Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressermethoden der Ablaßprediger wüßte, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als daß sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde.“
Inzwischen waren die 95 Thesen nicht mehr nur ein Streitpunkt unter Gelehrten. Sie wurden überall diskutiert. Deshalb verfaßte Luther den in deutscher Sprache gehaltenen, für Laien einfacher und verständlicher formulierten Sermon von dem Ablaß und der Gnade. Das zunächst von der römischen Kurie nicht ernstgenommene Signal aus Wittenberg erlangte damit sehr schnell eine Eigendynamik. Der Vatikan eröffnete 1518 ein Verfahren gegen Luther. Als er nicht widerrufen wollte, folgte 1520 der päpstliche Kirchenbann, dessen gedrucktes Exemplar der Reformator Ende des Jahres in Wittenberg öffentlich und demonstrativ verbrannte.
Die Reformation und die damit einhergehende Kirchenspaltung des Abendlandes, die Luther ursprünglich überhaupt nie im Sinne hatte, waren jetzt nicht mehr aufzuhalten.
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Literatur:
- Helmar Junghans (Hrsg.): Die Reformation in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1967
- Wolfgang Landgraf: Martin Luther. Reformator und Rebell, Berlin 1982
- Hans Zahrnt: Martin Luther. Reformator wider Willen, Leipzig 2000