Das Buch der Laster — Wolfgang Sofsky, 2009

Der Sozi­ologe Wolf­gang Sof­sky ist gegen­wär­tig ein­er der schärf­sten Kri­tik­er der roman­tis­chen Vorstel­lung vom Men­schen als Wesen, das von Natur aus gut bzw. wenig­stens zum Guten hin zu bekehren ist. Dage­gen konzen­tri­ert sich Sof­sky auf die Schat­ten­seit­en der men­schlichen Natur. Im Gegen­satz zum Trak­tat über die Gewalt (1996) wid­met sich Sof­sky in seinem bis­lang
let­zten Buch nicht nur einem Laster, son­dern einem ganzen Kat­a­log.

Die sieben Haupt­laster (oft­mals auch unter der Beze­ich­nung »sieben Tod­sün­den« zu find­en) erweit­ert Sof­sky auf achtzehn Laster, die sehr unter­schiedlich sind. So reicht das Spek­trum von der Gle­ichgültigkeit über die Torheit und den Hochmut bis hin zur Grausamkeit. Das Maß, an dem Sof­sky die Laster­haftigkeit mißt, ist nicht das gottge­fäl­lige Leben, wie bei der Sünde, son­dern der Men­sch – das Ich – und der andere Men­sch und damit die Gemein­schaft. Jede dieser Eigen­schaften ist Ursache für die eigene Unfrei­heit (man lei­det an sich selb­st oder den anderen) oder die Zer­rüt­tung der gesellschaftlichen Norm. Die Laster gren­zt Sof­sky dabei gegen andere, läßliche Unsit­ten ab, so beispiel­sweise den Hochmut gegen Prahlerei und Selb­st­ge­fäl­ligkeit.

Sof­skys Meis­ter­schaft beste­ht darin, die einzel­nen neg­a­tiv­en Eigen­schaften in ihrer Alltäglichkeit zu schildern, um so zu zeigen, daß es kein­er beson­ders aus­geprägten Bösar­tigkeit bedarf, um ein
schlechter Men­sch zu sein. Es ist weniger »das Böse« oder der gezielte Regelver­stoß, der die Ord­nung zum Ein­sturz bringt, als die ganz nor­malen und weitver­bre­it­eten Laster und Unsit­ten, denen man oft auf den ersten Blick nicht ansieht, welche Fol­gen sich aus ihnen ergeben kön­nen. Alltäglich sind nicht die Extreme, son­dern die Anfäl­ligkeit für das moralis­che Ver­sack­en über­haupt.

Sof­sky will mit sein­er impliziten »Kri­tik der Laster« die Ver­wahrlosung und den Stumpf­sinn aufhal­ten, ohne ihm ein pos­i­tives Gegen­pro­gramm ent­ge­gen­zustellen – ein­fach aus der Erwä­gung her­aus, daß die Natur des Men­schen zu mildern, aber nicht zu ändern ist. Diese Radikalität der Auf­fas­sung vom Wesen des Men­schen behin­dert zunehmend auch die Rezep­tion sein­er Büch­er.
Kon­nte Sof­sky mit früheren Büch­ern noch Debat­ten aus­lösen, so gelang ihm das mit dem Buch der Laster nicht mehr.

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Zitat:

Die moralis­che Verbesserung des Gat­tungswe­sens ist aus­ge­blieben. Die Hoff­nung auf die Ver­vol­lkomm­nung des Men­schengeschlechts, die einst zu den Grundpfeil­ern der mod­er­nen Ide­olo­gie gehörte, hat sich nicht erfüllt.

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Lit­er­atur:

  • Erik Lehn­ert: Autoren­por­trait Wolf­gang Sof­sky, in: Sezes­sion (2009), Heft 29.