Der Archipel GULAG — Alexander Solschenizyn, 1973

Als Bat­teriechef ein­er Artillerieein­heit hat­te Solsch­enizyn am Zweit­en Weltkrieg teilgenom­men. Noch vor Kriegsende wurde er plöt­zlich von der Spi­onage­ab­wehr ver­haftet – man hat­te Briefe von ihm abge­fan­gen, in denen er Stal­in kri­tisierte. Solsch­enizyn wurde zu acht Jahren Lager­haft verurteilt. 1953, nach Haf­tent­las­sung, ver­ban­nte man ihn bis zum Lebensende in die Steppe Kasach­stans. Unter Chr­uschtschow wurde er 1957 reha­bil­i­tiert.

Bere­its im Jahr 1958 begann Solsch­enizyn mit seinen Aufze­ich­nun­gen zum Archipel GULAG. Nach der über­raschend ges­tat­teten Veröf­fentlichung des Kurzro­mans Ein Tag im Leben des Iwan Denis­sow­itsch (1962), der die Grausamkeit­en des Lager­all­t­ags im GULAG schildert, melde­ten sich viele ehe­ma­lige Lagerin­sassen bei ihm, um ihre Erin­nerun­gen mit dem Autor zu teilen und an ihn weit­erzugeben. Unge­fähr zehn Jahre später war das Manuskript abgeschlossen. Allerd­ings hielt Solsch­enizyn eine Veröf­fentlichung zurück, da er durch eine mögliche Ver­haf­tung
die Fer­tig­stel­lung seines großen his­torischen Romanzyk­lus Das rote Rad nicht gefährden wollte, zumal er seit 1965 unter ständi­ger Beobach­tung des KGB stand.

1970 erhielt Solsch­enizyn den Nobel­preis für Lit­er­atur, reiste aber nicht zur Ver­lei­hung, da er die Ver­weigerung der Wiedere­in­reise seit­ens der Sow­je­tu­nion befürchtete.
Im August 1973 gelangte der KGB an das Manuskript zum Archipel GULAG, kurz darauf veröf­fentlichte ein rus­sis­ch­er Emi­granten­ver­lag in Paris den Text erst­ma­lig. Anfang 1974 wurde Solsch­enizyn aus der Sow­je­tu­nion aus­gewiesen.

Der Archipel GULAG ist sich­er das wichtig­ste und bis dahin umfan­gre­ich­ste Werk eines  Über­leben­den zum sow­jetis­chen Ter­ror- und Lager­sys­tem – eine Mis­chung aus lit­er­arischem Erfahrungs­bericht sowie Stim­men- und Fak­ten­samm­lung. »GULAG« ist ein Akro­nym für den Ver­wal­tungsap­pa­rat (Glawnoe Uprawleni­je LAGerei = Hauptver­wal­tung der Lager) der bere­its ab 1918 ein­gerichteten Lager. Durch Solsch­enizyn wurde der Begriff zum Sinnbild des Ter­ror- und Zwangsar­beit­er­sys­tems der Sow­je­tu­nion, das sich mit­tels viel­er tausender Inseln, einem Archipel gle­ich, über das Land erstreck­te.

Anhand von Zeu­ge­naus­sagen, Doku­menten und der eige­nen Erfahrung schildert Solsch­enizyn den Weg der zumeist plöt­zlich Inhaftierten und Verurteil­ten durch die Knochen­mühlen des sow­jetis­chen Sicher­heit­sap­pa­rats. Er beschreibt die Ver­höre, die Folter­meth­o­d­en, die ständi­ge Rechts­brechung seit­ens des Sys­tems, die Absur­dität und Grausamkeit der zu erfül­len­den Gefan­genen- und Geständ­nisquoten sowie der grotesken Prozesse während der Stal­in-Zeit, die Unmen­schlichkeit der Lebens­be­din­gun­gen in den Lagern und die tod­brin­gende Zwangsar­beit
vor Ort; er nen­nt Namen von Opfern und Tätern – alles in einem zumeist zynis­chen bis schn­od­dri­gen Ton, der den Ver­lust der Men­schlichkeit inner­halb des Sys­tems, bei Tätern als auch Opfern, bit­ter unter­stre­icht.

Die Erstaus­gabe des Buch­es war in zwei Teile gegliedert, »Die Gefäng­nisin­dus­trie« sowie »Ewige Bewe­gung«, in dem Solsch­enizyn die Häftlingsströme zur Besied­lung des »Archipels« beschreibt. 1975 und 1978 veröf­fentlichte er zwei weit­ere Bände mit den Teilen »Arbeit und Aus­rot­tung«, »Seele und Stachel­draht«, »Die Kator­ga kommt wieder«, »In der Ver­ban­nung « sowie »Nach Stal­in«. 1985 erschien eine gekürzte, ein­bändi­ge Aus­gabe.

Der rus­sis­che Schrift­steller Vik­tor Jero­fe­jew beze­ich­nete den Archipel GULAG als »das unsterbliche Meis­ter­w­erk des ehe­ma­li­gen sow­jetis­chen Artillerie-Offiziers, der mit seinen lit­er­arischen Geschossen half, die Sow­je­tu­nion zu zer­stören«. Der englis­che Autor Mar­tin Amis meint gar, daß zum Zeit­punkt der Veröf­fentlichung des Archipel GULAG die Sow­je­tu­nion
und Alexan­der Solsch­enizyn »das­selbe Gewicht« hat­ten. Im west­lichen Europa wandten sich infolge des Buch­es viele Intellek­tuelle vom Kom­mu­nis­mus und den entsprechen­den Parteien und
Grup­pierun­gen ab; diese wur­den zum Teil dauer­haft geschwächt. Zudem ver­suchte man nun mit­tels des soge­nan­nten Eurokom­mu­nis­mus, dieser Ide­olo­gie eine humanere Fär­bung zu geben und sich kri­tisch von der Sow­je­tu­nion abzu­gren­zen. Anderthalb Jahrzehnte nach Erstveröf­fentlichung des Archipel GULAG brach das Sys­tem in Europa endgültig zusam­men.

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Zitat:

Von der Bering-Straße bis fast zum Bosporus hin liegen die aber­tausend Inseln des ver­wun­sch­enen Archipels ver­streut. Unsicht­bar sind sie, aber vorhan­den, und eben­so unsicht­bar, doch stetig müssen die unsicht­baren Sklaven befördert wer­den, jed­er ein Leib, ein Vol­u­men, ein Gewicht.

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Aus­gabe:

  • Vom Ver­fass­er autorisierte, über­ar­beit­ete und gekürzte Aus­gabe in einem Band, Frank­furt a. M.: Fis­ch­er Taschen­buch 2008.

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Lit­er­atur:

  • Jew­ge­nia Gins­burg: Marschroute eines Lebens, München 1999
  • War­lam Scha­la­m­ow: Erzäh­lun­gen aus Koly­ma 1–3, Berlin 2008–2010