Solschenizyn, Alexander — Schriftsteller, 1918–2008

Kein ander­er Dichter des 20. Jahrhun­derts hat eine ver­gle­ich­bare poli­tis­che Wirkung ent­fal­tet wie der rus­sis­che Schrift­steller Alexan­der Solsch­enizyn. Der Romanci­er, Erzäh­ler, Lyrik­er und Essay stammte aus ein­er armen Fam­i­lie und wurde am 11. Dezem­ber 1918 in Kislowod­sk (Region Stawropol) geboren. Er studierte Math­e­matik und Philoso­phie in Ros­tow am Don. Im Zweit­en Weltkrieg war er Bat­teriechef ein­er Artillerieein­heit. Er nahm an der Eroberung Ost­preußens teil und wurde dort Zeuge der Greuel, welche die Rote Armee an der deutschen Zivil­bevölkerung verübte. Sie fan­den Ein­gang in den Gedicht­band Ost­preußis­che Nächte (1976) und in die Erzäh­lung Schwenkit­ten ’45 (2004).
Im Feb­ru­ar 1945 wurde Solsch­enizyn von der sow­jetis­chen Geheim­polizei ver­haftet, weil er – zu dem Zeit­punkt noch ein überzeugter Kom­mu­nist – in Pri­vat­briefen Kri­tik an Stal­in geübt hat­te. Er wurde zu acht Jahren Lager­haft verurteilt, aus der er 1953 in die »ewige Ver­ban­nung« nach Kasach­stan ent­lassen wurde. Nach sein­er Reha­bil­i­tierung 1957 durfte er als Lehrer arbeit­en. 1962 erschien sein Kurzro­man Ein Tag im Leben des Iwan Denis­sow­itsch, der den gewöhn­lichen Tagesablauf in einem sow­jetis­chen Zwangsar­beit­slager schildert. Die Pub­lika­tion fiel in die soge­nan­nte Tauwet­ter-Peri­ode, die Parte­ichef Niki­ta Chr­uschtschow mit der Enthül­lung Stal­in­sch­er Ver­brechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 ein­geleit­et hat­te.

Im Unter­schied zu den meis­ten sein­er Kol­le­gen war Solsch­enizyn nicht bere­it, den Massen­ter­ror als eine von einem einzel­nen verur­sachte Ver­let­zung sozial­is­tis­ch­er Nor­men zu bagatel­lisieren. Er sah in ihm ein gen­uines und unver­mei­dlich­es Merk­mal des kom­mu­nis­tis­chen Sys­tems und wurde zu ein­er Galions­fig­ur der inneren Oppo­si­tion. Seine fol­gen­den Werke – darunter die Romane Im ersten Kreis (1968, erschienen auch unter dem Titel: Der erste Kreis der Hölle) und Kreb­ssta­tion (1968) – durften in der Sow­je­tu­nion nicht mehr erscheinen und wur­den daher im Aus­land erstveröf­fentlicht.

1970 erhielt er den Nobel­preis für Lit­er­atur. Sein berühmtestes Buch, Der Archipel GULAG (1974), zählt zu den Klas­sik­ern der doku­men­tarischen Lit­er­atur und bietet ein eben­so umfassendes wie detail­liertes Panora­ma des sow­jetis­chen Staat­ster­rors zwis­chen 1918 und 1956. Solsch­enizyn löste damit eine große Erschüt­terung in der west­lichen Welt ein­schließlich der poli­tis­chen Linken und selb­st der kom­mu­nis­tis­chen Parteien aus. In der Bun­desre­pub­lik allerd­ings war die Wirkung ver­gle­ich­sweise ger­ing.

1974 durfte der Autor – u. a. dank dem Ein­satz von Hein­rich Böll – die Sow­je­tu­nion ver­lassen. Über die Bun­desre­pub­lik und die Schweiz ging er in die USA. Der Exi­lant sorgte im West­en bald für Irri­ta­tio­nen, weil er sich der Instru­men­tal­isierung durch linke und lib­erale Diskurse ver­weigerte und die west­liche Lebensweise als dekadent und mate­ri­al­is­tisch kri­tisierte. Er fand sich Zwis­chen zwei Mühlsteinen (2005) wieder, dem sow­jetis­chen Geheim­di­enst und der öffentlichen Mei­n­ung im West­en. In der DDR erschien der Roman Der Gauk­ler des Schrift­stellers Har­ry Thürk, der Solsch­enizyn als eine Mar­i­onette des amerikanis­chen Geheim­di­en­stes denun­ziert.

In den USA wid­mete er sich dem noch in der Sow­je­tu­nion begonnenen und ursprünglich auf 20 Bände angelegten Romanzyk­lus Das rote Rad (in deutsch­er Über­set­zung sind drei Bände erschienen: August vierzehn, Novem­ber sechzehn, März siebzehn), der ein Porträt der rus­sis­chen Gesellschaft vor, während und nach der Okto­ber­rev­o­lu­tion liefern sollte. 1991 brach er das unvol­len­dete Pro­jekt ab. Die lib­eralen Kräfte, die in der Feb­ru­ar­rev­o­lu­tion 1917 den Zaren stürzten, erscheinen darin weniger als Geg­n­er denn als Weg­bere­it­er der Bolschewi­ki, die wenige
Monate später mit der Okto­ber­rev­o­lu­tion siegre­ich waren. Der rus­sisch-slaw­is­che Mes­sian­is­mus, der Solsch­enizyns Werk zunehmend inhärent wurde, ver­störte im West­en aber nicht nur wegen seines Antilib­er­al­is­mus, son­dern auch, weil er gle­ich­falls in der Prax­is des Bolschewis­mus wirk­sam gewor­den war.

Solsch­enizyn hat­ten seine Lei­denser­fahrun­gen in den 1960er Jahren zum Chris­ten­tum geführt. Auch damit stand er in der Tra­di­tion der großen rus­sis­chen Real­is­ten. Mit Lew Tol­stoi hat­te er den großen epis­chen Atem bei der Schilderung geschichtlich­er Entwick­lun­gen gemein­sam. Die philosophis­che und religiöse Ver­tiefung sowie die psy­chol­o­gis­che Ein­dringlichkeit von Fjodor Dos­to­jew­s­ki erre­ichte er jedoch nicht. 1994 kehrte Solsch­enizyn nach Ruß­land zurück, das sich inzwis­chen vom Kom­mu­nis­mus ver­ab­schiedet hat­te. Von der Entwick­lung im Land, das in der west­lichen Lebensweise sein Vor­bild erblick­te, zeigte er sich ent­täuscht.

Eine spek­takuläre Veröf­fentlichung gelang ihm nochmals mit dem Zweit­eil­er Zwei­hun­dert Jahre zusam­men (2002/03), in dem er sich mit dem Ver­hält­nis von Russen und Juden auseinan­der­set­zt. Kri­tik löste sein Hin­weis auf den über­pro­por­tionalen Anteil von Juden unter den rus­sis­chen Rev­o­lu­tionären und seine Deu­tung des Holo­caust als eine meta­ph­ysis­che Strafe aus.
2007 kam es zu ein­er ein­vernehm­lichen Begeg­nung mit dem rus­sis­chen Präsi­den­ten Wladimir Putin.

Am 3. August 2008 ver­starb Alexan­der Solsch­enizyn in Moskau.

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Zitat:

Ich habe lang genug im Gefäng­nis gesessen, ich habe dort meine Seele großge­zo­gen. Ich wieder­hole unbeir­rt: Sei geseg­net, Gefäng­nis, daß du in meinem Leben gewe­sen bist. (Und aus Gräbern tönt mir die Antwort: Du hast leicht reden, du bist am Leben geblieben!)

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Schriften:

  • Ein Tag im Leben des Iwan Denis­sow­itsch, Berlin 1963
  • Der erste Kreis der Hölle, Frank­furt a. M. 1968 (Orig­i­nal­fas­sung: Im ersten Kreis, Frank­furt a. M. 1982)
  • Kreb­ssta­tion, 2 Bde., Neuwied/Berlin 1968/69
  • August vierzehn, München 1972
  • Der Archipel GULAG (Bd. 1–3), Bern 1974/75
  • Novem­ber sechzehn, München/Zürich 1986
  • März siebzehn, 2 Bde., München/Zürich 1989/90
  • »Zwei­hun­dert Jahre zusam­men«. Die rus­sisch-jüdis­che Geschichte 1795–1916/Die Juden in der Sow­je­tu­nion, 2 Bde., München 2002/03
  • Zwis­chen zwei Mühlsteinen. Mein Leben im Exil, München 2005

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Lit­er­atur:

  • Rudi Dutschke/Manfred Wilke (Hrsg.): Die Sow­je­tu­nion, Solsch­enizyn und die west­liche Linke, Rein­bek bei Ham­burg 1975
  • Don­ald M. Thomas: Solsch­enizyn. Die Biogra­phie, Berlin 1998