Der Mensch — Arnold Gehlen, 1940

Es gibt wenige Kern­be­griffe der Philosophis­chen Anthro­polo­gie, die gle­ichzeit­ig so bekan­nt sind und so oft mißver­standen wur­den wie der des »Män­gel­we­sens«. Gehlens Behaup­tung, daß der Men­sch als »nor­mal­isierte Frühge­burt« anzus­prechen sei, ohne die Reife­merk­male, die erwach­sene Tiere haben, ohne hin­re­ichende Aus­rüs­tung, um sich zu schützen oder gegen Rivalen durchzuset­zen, vor allem aber unspezial­isiert und instink­tarm, und daß es diese Menge von Defiziten sei, die den Erfolg unser­er Spezies erst ermöglichte, hat für all­ge­meine Irri­ta­tion gesorgt und ger­ade den Wider­spruch der Biolo­gen her­vorgerufen, um deren Ver­ständ­nis Gehlen warb. Tat­säch­lich war seine Grun­didee zu weit ent­fer­nt von Annah­men, die noch ganz im Bann der »Höher­en­twick­lung« standen und mehr oder weniger offen dem Gedanken fol­gten, daß auch die Natur­wis­senschaft beweise, was man immer gewußt hat­te: der Men­sch als »Kro­ne«, wenn nicht der Schöp­fung, dann des evo­lu­tionären Prozess­es.

Bei Gehlen fehlen solche Urteile über den homo sapi­ens, ohne daß er dessen Fähigkeit­en ger­ingschätzte. Er neigte nur dazu, die Fragilität der Spezies zu beto­nen, die »kon­sti­tu­tionelle Chance zu verunglück­en«, das Unwahrschein­liche ihrer Durch­set­zung und des Zusam­men­spiels von Fak­toren, die den Men­schen ermöglicht­en: ein »Schoß der Natur«, der unseren Vor­fahren erlaubte, trotz Wehrlosigkeit zu über­leben, bis die entschei­den­den Fähigkeit­en – Sprache und »Hand­lung« – so weit aus­ge­bildet waren, daß sie die notwendi­ge »Ent­las­tung« erlaubten, um jenen Siegeszug anzutreten, der den Men­schen schließlich über den ganzen Erd­ball ver­bre­it­en und zum Her­rn der Welt machen sollte. Das war nur möglich, weil er die Schwächen sein­er »ersten« durch die Stärken sein­er »zweit­en Natur« kom­pen­sierte.

Denn das »Män­gel-« ist auch das »nicht fest­gestellte« Wesen, das einen unver­gle­ich­lichen Spiel­raum gewin­nt und zum »Prometheus« wer­den kann, dem kul­turschaf­fend­en Heros, der immer neue Ord­nun­gen stiftet und die Gefährdun­gen durch die feindliche Umwelt beseit­igt. Diese Leis­tung kann aber nicht ständig wieder­holt wer­den. Gehlen hat betont, daß man als »wesentlichen Grundzug aller kul­turellen Gestal­tun­gen die Rich­tung auf Dauer« her­vorheben müsse und deshalb im Schlußteil der ersten drei Aufla­gen von Der Men­sch (1940, 1941, 1944) die Bedeu­tung der »Ober­sten Führungssys­teme« her­vorge­hoben, die auf »Zucht­bilder« zurück­greifen, um jene »Zucht« bzw. Erziehung zu gewährleis­ten, die den Men­schen in die Insti­tu­tio­nen ein­paßt, um die Ord­nung zu bewahren.

Man warf ihm später vor, hier in nation­al­sozial­is­tis­chen Jar­gon ver­fall­en zu sein, und die let­zten drei Kapi­tel des Buch­es fehlen in den Nachkriegsaus­gaben. In der Sache hat Gehlen allerd­ings nichts zurückgenom­men und zu Recht darauf ver­wiesen, daß seine Anthro­polo­gie 1940 wegen der Absage an die Rassen­lehre so wenig ortho­dox war wie im Jahr 1950, als die erste von ins­ge­samt vierzehn Nachkriegsaufla­gen des Men­schen erschien und eine skep­tis­che Anthro­polo­gie kaum zum Opti­mis­mus des Wieder­auf­baus passen wollte.

Heute liegt die Phase, in der es genügte, (unter dem maßge­blichen Ein­fluß von Jür­gen Haber­mas) Gehlen wahlweise gefährlich oder belan­g­los zu find­en, weit zurück. Par­al­lel zur Wieder­ent­deck­ung der deutschen Philoso­phie des 20. Jahrhun­derts geri­et auch die Philosophis­che Anthro­polo­gie in das Blick­feld und damit Gehlens zen­trale Rolle inner­halb eines Denkansatzes, dessen Bedeu­tung kaum hoch genug eingeschätzt wer­den kann, zumal er erlaubt, das poli­tis­che Denken vom Kopf auf die Füße zu stellen.

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Zitat:

Wenn der Men­sch keine organ­is­chen Mech­a­nis­men hat, die ihm in ihrer tierisch-bornierten Angepaßtheit das Han­deln abnehmen, wenn er in sein­er Mit­tel­losigkeit den Über­druck der Antriebe in aktiv­en Kämpfen um das Leben­snotwendi­ge ver­ar­beit­en muß, so ist es, anders gesagt, das natür­liche Bedürf­nis seines Antrieb­slebens selb­st, gehemmt und aus­ge­le­sen, formiert und gezüchtet zu wer­den.

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Aus­gabe:

  • Tex­tkri­tis­che Edi­tion in Bd. 3 der Gesam­taus­gabe (in 2 Teil­bän­den), hrsg. v. Karl-Sieg­bert Rehberg, Frank­furt a. M.: Kloster­mann 1993.

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Lit­er­atur:

  • Joachim Fis­ch­er: Philosophis­che Anthro­polo­gie. Eine Denkrich­tung des 20. Jahrhun­derts, Freiburg i. Br. 2007
  • Chris­t­ian Thies: Gehlen zur Ein­führung, Ham­burg 2007
  • Karl­heinz Weiß­mann: Arnold Gehlen. Vor­denker eines neuen Real­is­mus, Schnell­ro­da 2004