Der Mythos vom Zivilisationsprozeß — Hans Peter Duerr, 1988–2002

In seinem Buch Über den Prozeß der Zivil­i­sa­tion, das erst­mals 1939 in zwei Bän­den in Basel veröf­fentlicht wurde, ver­sucht Nor­bert Elias die These zu unter­mauern, daß im Ver­lauf des let­zten hal­ben Jahrtausends der Trieb­haushalt der Europäer, gle­ich­sam ihre »ani­malis­che Natur«, in zunehmen­dem Maße domes­tiziert wor­den ist. Affek­te, Emo­tio­nen, Nack­theit, kör­per­liche Funk­tio­nen seien aus dem Bere­ich des Öffentlichen ver­drängt wor­den. Nach­dem die Europäer sich dergestalt zivil­isiert hät­ten, bezo­gen sie auch die »Prim­i­tiv­en«, d.h. noch eher »urtüm­lichen« Gesellschaften in den Zivil­isierung­sprozeß ein.

Elias’€™ Werk erschien in zweit­er Auflage erst 1969 und in drit­ter Auflage 1976. Diese Neuau­fla­gen fie­len in die Zeit der 68er »Rev­o­lu­tion« und ihre Nach­we­hen. Elias’€™ Darstel­lung des Zivil­i­sa­tion­sprozess­es wurde daher dankbar aufgenom­men, schien sie doch die in den entsprechen­den intellek­tuellen Kreisen gepflegte Fun­da­mentalkri­tik an Kul­tur und Zivil­i­sa­tion der west­lichen Welt auf ein anthro­pol­o­gisch gefes­tigtes Fun­da­ment zu stellen.

Duerrs gewaltiges Werk ist der Zurück­weisung der von Elias propagierten The­o­rie der Zivil­i­sa­tion gewid­met. Durch eine ehrfurcht­ge­bi­etende und kaum über­schaubare Fülle von ethno­graphis­chen und his­torischen Bele­gen weist er überzeu­gend nach, daß die »ani­malis­che Natur« der Men­schen der Antike, des Mit­te­lal­ters und der soge­nan­nten »prim­i­tiv­en« Gesellschaften keineswegs weniger domes­tiziert war und ist als jene des mod­er­nen Men­schen. Schamge­fühl ist eine tran­skul­turelle Uni­ver­salie; sie greift auch bei Nack­theit, etwa durch das gebotene Ver­mei­den des Blick­es auf die Gen­i­tal­ien.

Im Grunde han­delt es sich bei der The­o­rie des Zivil­i­sa­tion­sprozess­es auch um eine Vari­a­tion über die Denk­fig­ur des »Edlen Wilden«, der in sein­er »Natür­lichkeit« der »Kün­stlichkeit« des mod­er­nen Men­schen gegenübergestellt wird. Die von Nor­bert Elias und sein­er Schule vertretene Zivil­i­sa­tion­s­the­o­rie hält Duerr daher für einen »Mythos«. In diesem »mythisch« geprägten Blick auf sich selb­st hat sich unsere Gesellschaft meist sel­ber gefeiert – oder auch in Frage gestellt. Die Zivil­i­sa­tion­s­the­o­rie ver­mit­telt jedoch ein Zer­rbild ver­gan­gener und fremder Kul­turen. Damit ver­weist Duerr auf ihre dop­pelte Funk­tion. Ein­er­seits diente der »Mythos« zur Recht­fer­ti­gung des Kolo­nial­is­mus und sein­er »zivil­isieren­den Mis­sion«, ander­er­seits kon­nte er durch die imag­inäre Kon­trast­folie der frem­den Kul­turen als Vehikel der Kri­tik an der eige­nen west­lichen Kul­tur instru­men­tal­isiert wer­den.

Mit sein­er Kri­tik an der Zivil­i­sa­tion­s­the­o­rie hat sich Duerr um eine real­ität­sna­he Sicht auf die men­schliche Natur sehr ver­di­ent gemacht. Sein anthro­pol­o­gis­ch­er Befund ist mit der utopis­tis­chen Dok­trin der gren­zen­losen Form­barkeit des Men­schen unvere­in­bar.

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Zitat:

Wir haben also gese­hen, daß allem Anschein nach Nack­theit und Scham nicht nur in der Antike und im Mit­te­lal­ter, son­dern auch in frem­den, ange­blich prim­i­tiv­en Gesellschaften so eng miteinan­der ver­bun­den sind, daß vieles für die Wahrheit des bib­lis­chen Mythos spricht, nach dem die Scham vor der Ent­blößung des Gen­i­tal­bere­ich­es keine his­torische Zufäl­ligkeit ist, son­dern zum Wesen des Men­schen gehört.

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Aus­gabe:

  • Taschen­buchaus­gabe, Frank­furt a. M.: Suhrkamp 1994–2005

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Lit­er­atur:

  • Ken­neth Anders: Die unver­mei­dliche Uni­ver­salgeschichte. Stu­di­en über Nor­bert Elias und das Tele­olo­gieprob­lem, Opladen 2000